Nixenblut
hat er sich zu mir umgedreht und gesagt, er hätte etwas gesehen, das einfach nicht sein könne, nämlich ein Mädchen unter Wasser. Das Mädchen sei nicht ertrunken gewesen, sondern habe zu ihm aufgeblickt. Dann hat er gesagt: ›Du wirst es nicht glauben, Conor, aber sie hat genauso ausgesehen wie deine Schwester. Sie hätte ihre Zwillingsschwester sein können.‹ Und dann hat er mit dem ganzen Zeug von der Krümmung des Lichts und der Reflexion unter Wasser angefangen. Aber ich wusste, dass er selbst nicht daran glaubte, sondern nur nach irgendeiner Erklärung suchte. Also habe ich ihm erzählt, dass es in dieser Gegend schon immer viele Meerfrauen gegeben habe und eine vielleicht deine Zwillingsschwester sei. Darüber hat er gelacht.«
»Er hat über die Mer gelacht?«
»Sapphire, bitte! Ich habe versucht, ihn zum Lachen zu bringen. Ich wollte, dass er alles für eine Sinnestäuschung hält und die ganze Geschichte als Unsinn abtut. ›Jedenfalls weiß ich genau, dass deine Schwester keine Meerfrau ist‹, hat er gesagt. ›Ich habe sie laufen sehen und sie hat definitiv zwei Füße gehabt.‹«
Unwillkürlich schaue ich nach unten, um mich davon zu
überzeugen, dass meine Füße noch da sind. Und richtig, dort sehe ich sie in meinen Turnschuhen. Ganz ruhig, Sapphire. Conor ist auf deiner Seite. Er versucht nur, Roger davon zu überzeugen, dass er dich unmöglich unter Wasser beim Sonnenbaden gesehen haben kann.
»Es tut mir so Leid, Conor«, sage ich. »Ich weiß, dass ich Unrecht hatte.«
»Wovon redest du?«
»Von Dad. Natürlich hoffst du immer noch, dass er zurückkommt. «
»Natürlich tue ich das«, entgegnet Conor ungeduldig, als hätte er unseren Streit längst vergessen. »Aber trotzdem, Saph …«
»Was?«
»Trotzdem brauchst du Roger gegenüber nicht so abweisend zu sein. Er ist wirklich okay.«
»Ist er nicht! Er ist ein Taucher. Er ist ein Feind der Mer.«
Conor schweigt eine Weile. Er sieht mich aufmerksam an und sagt schließlich leise:
»Aber du bist keine Mer, Sapphire. Du bist ein Mensch, so wie Mum, Roger und ich.«
»Ich bin nicht wie Roger!«, bricht es aus mir heraus.
»Aber du bist wie ich, oder?«, fährt Conor fort. Er spricht immer noch sehr leise, als wäre er sich nicht ganz sicher, wie ich reagiere. »Wir sind Bruder und Schwester und haben dieselben Gene. Menschliche Gene, Saph.«
»Ja«, sage ich unsicher. Natürlich gehöre ich zu Conor, meinem Bruder. Aber ich erinnere mich auch, was ich zu den Delfinen gesagt habe: Ich gehöre doch auch zu Indigo. Auch wenn Faro Recht damit hat, dass ich von Indigo nicht mehr als ein Sandkorn kenne, so fühle ich mich dort nicht
fremd. In Indigo fühle ich mich anders. Lebendiger. So … wie ich wirklich bin.
»Sag mir ganz ehrlich, Con, glaubst du wirklich, dass wir hundertprozentig an Land gehören und kein bisschen Mer in uns haben? Ich meine, du und ich.«
»Aber, Saph. Was sollen wir denn anderes sein als Menschen? Wir haben eine menschliche Mutter und einen menschlichen Vater. Das macht auch uns zu hundertprozentigen Menschen. Warum willst du unbedingt etwas anderes glauben?«
»Ich weiß es nicht.« Plötzlich fühle ich mich sehr müde. Conor steht direkt neben mir, doch scheint er weit weg zu sein. »Ich weiß nicht, warum ich es glaube, aber es ist eben so. In Indigo fühle ich mich frei. Ich kann überall hinschwimmen …«
»Ja, solange du an Faros Handgelenk hängst«, erwidert Conor sarkastisch. »So viel Freiheit kann ich darin nicht erkennen. «
»Aber das brauche ich gar nicht mehr.«
»Was? Das brauchst du nicht mehr?«, wiederholt Conor langsam. »Natürlich … wenn du immer noch sein Handgelenk festhalten würdest, dann hätte Roger auch Faro gesehen. Du kannst also selbstständig atmen und dich frei bewegen, wenn du da unten bist?«
»Aber ja. Nur wenn es richtig schnell gehen soll, fasse ich um Faros Handgelenk, oder wir reiten auf Delfinen.«
»Du hättest nie dorthin zurückkehren dürfen, Saph. Es ist gefährlich. Und es verändert dich. Es zieht dich jedes Mal tiefer hinein. Das habe ich dir schon letztes Mal zu sagen versucht. Warum hörst du mir nicht zu?«
»Warum hörst du mir nicht einmal zu, Conor? Du hättest
heute mitkommen sollen. Du weißt noch gar nicht, wie das ist. Wir sind auf den Delfinen geritten und ich habe fast ihre Sprache verstanden. Es tut überhaupt nicht mehr weh, nach Indigo zu gelangen – nicht wie beim ersten Mal. Außerdem können Faro und ich …« Fast hätte ich
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