Nixenblut
Biene schlägt summend an die Scheibe. Granny Carne geht ans Fenster, öffnet es einen Spalt und sagt der Biene, sie solle verschwinden. Sie käme später noch mal zu ihnen. Die Biene fliegt sofort davon, ins Blaue, als hätte sie alles verstanden.
»Die wollen immer wissen, was hier vor sich geht«, erklärt Granny Carne. »Man muss den Bienen alles erzählen, wer geboren wurde und wer gestorben ist… Wenn sie so etwas als Erste erfahren, dann sind sie zufrieden.«
Man könnte wirklich fast glauben, Granny Carne sei wie andere allein lebende ältere Damen auch. Aber nur fast.
»Könnte ich auch die Bienen besuchen?«, fragt Conor. Ich blicke ihn erstaunt an.
»Du möchstest mit meinen Bienen reden?«, fragt Granny Carne.
»Ja, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Granny Carne erhebt sich. Mächtig wie eine Queen steht sie da und sieht Conor nachdenklich an. Nach einer Weile dreht sie sich schweigend um und geht aus dem Haus.
»Ich glaube, sie ist böse«, sage ich nervös. »Du hättest nicht fragen sollen. Es sind ihre Bienen.«
»Sie ist nicht böse«, entgegnet Conor ruhig. »Bestimmt ist sie gleich wieder da.«
Er hat Recht. Granny Carne kommt mit ihrer Schutzkleidung über dem Arm zurück.
»Ich bewahre die Kleider im Schuppen auf«, sagt sie. »Bienen mögen den Geruch des Hauses nicht. Los geht’s, Conor.«
Sie reicht ihm einen ausgebeulten weißen Overall. Conor zieht ihn sich über Jeans und T-Shirt.
»Meine Stiefel sind zu klein für dich, aber deine Turnschuhe sind schon in Ordnung. Steck die Hosenbeine in die Schuhe, damit die Bienen nicht hineinkriechen können. Sie wollen eigentlich nicht stechen, weil das ihren Tod bedeutet, aber wenn sie in deinen Kleidern gefangen sind, geraten sie in Panik. Jetzt den Hut …«
Conor setzt den Hut mit dem Schleier auf. Granny Carne rückt ihn zurecht und tritt einen Schritt zurück, um sich davon zu überzeugen, dass er vollkommen geschützt ist.
»So ist es gut.«
Im Gänsemarsch – Granny Carne vorneweg, gefolgt von Conor, dann ich – trotten wir den kleinen Pfad hinauf, bis wir eine Art Plateau erreichen. Die Sonne brennt. Der buttrige, kokosnussartige Geruch von Stechginster liegt in der
Luft. Sperlinge flattern aus den Büschen, als wir vorübergehen. Wir stampfen kräftig auf, um etwaige Schlangen zu warnen. An solch einem Tag könnte jederzeit eine Natter hervorkriechen, um sich auf einem Stein zu sonnen.
Der Grund ist ein wenig abschüssig, als wir in einer geschützten Mulde vor uns einen Bienenstock erkennen. Schon aus einiger Entfernung kann ich die kleine schwarze Wolke vor der Öffnung sehen und das leise, geschäftige Summen hören.
»Wir gehen nicht näher heran«, sagt Granny Carne. »Du verhältst dich ab jetzt ganz ruhig und redest mit sanfter Stimme, Conor.«
Sie macht einen Schritt nach vorne und lauscht.
»In Ordnung, jetzt kannst du sie besuchen«, sagt sie nach einer Weile. »Im Bienenstock ist es ruhig. Es geht ihnen gut.«
»Was soll ich tun?«
»Geh ganz langsam auf sie zu. Mach dir keine Sorgen, wenn sich einige auf dir niederlassen. Sie wollen nur wissen, was du für einer bist.«
»Werden sie Conor nicht für Sie halten, wenn er Ihre Kleidung trägt?«
»Nein, Bienen kann man nichts vormachen. Wenn sie sich an dich gewöhnt haben, Conor, gehst du nahe an den Bienenstock heran und sagst ihnen, was du ihnen sagen willst. Hauptsache, du machst alles ruhig und sanft. Bienen mögen keine Hektik.«
»Kann ich ihnen auch Fragen stellen?«
»Es gibt nur wenige, die aus ihnen eine Antwort herauskriegen«, entgegnet Granny Carne ernst.
»Aber Sie können das«, sagt Conor.
Sie nickt. »Die Bienen und ich leben schon sehr lange zusammen. Wir sind wie eine Familie. Geh jetzt auf sie zu und erweise ihnen Respekt, dann werden sie dir nichts tun.«
Conor macht vorsichtige Schritte. Es scheint ein langer Weg bis zum Bienenstock zu sein. Eine kleine Bienenwolke nimmt ihn in Empfang und kreist um seinen Kopf. Conor scheint das nichts auszumachen. Er geht unbeeindruckt weiter, bis er den Bienenstock erreicht. Dann kniet er sich vorsichtig hin, sodass sein Gesicht auf der Höhe der Öffnung ist.
Ich beobachte ihn. Conor regt sich kaum. Ich sehe nur seinen Rücken und höre nichts als das Summen der Bienen.
»Frag sie jetzt«, murmelt Granny Carne, als spräche sie zu sich selbst. Doch Conor scheint sie zu hören. Ich höre das Geräusch seiner Stimme, kann aber nicht verstehen, was er sagt. Das ständige Summen ist für einen
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