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Nixenfluch

Nixenfluch

Titel: Nixenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Dunmore
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mache eine kurze Pause und hole tief Luft. All die Erinnerungen kehren zurück, an die Zeit, als ich noch klein war und mit Mum an einem Ecktisch saß. Die rauchige Luft ist von Stimmen und Gelächter erfüllt. Ich klammere mich an meine Chipstüte, und Conor und ich sind mucksmäuschenstill, um bloß nicht aufzufallen und irgendjemand auf den Gedanken zu bringen, uns nach Hause zu schicken.
    Ich sehe Dads leuchtendes glückliches Gesicht vor mir. Manchmal singt er ohne Begleitung, manchmal spielt er ein paar Akkorde auf der Gitarre dazu. Doch vor allem ist es seine Stimme, die alle in ihren Bann zieht. Sie ist so voll und kräftig, dass die Leute an den Tischen verstummen und verträumt vor sich hinstarren.
    »Du denkst an The Parting Glass , nicht wahr, Sapphy?«, fragt Conor leise.
    »Ja.«
    Ich ziehe langsam die Luft ein. Die ersten Worte kommen mir zittrig über die Lippen, doch dann festigt sich meine Stimme, ich vergesse alles um mich herum und denke nur noch an das Lied.
    All das Geld, das ich gehabt,
    ich bracht es durch in trauter Runde,
    all die Wunden, die ich schlug,
    sie wurden mir zur eignen Wunde,
    und was ich tat und längst vergaß,
    ich tat es, um euch zu gefallen,
    so füllt mir noch ein letztes Glas,
    Gut’ Nacht und Freude mit euch allen.
    All die Freund’, die ich gehabt,
    sie nehmen meinen Abschied schwer,
    und alle Liebsten wünschen sich,
    dass nur ein einziger Tag noch wär.
    Doch weil ich unser Schicksal sah,
    dass ich muss fort und du bleibst da,
    so rufe ich, euch zu gefallen:
    Gut’ Nacht und Freude mit euch allen,
    gut’ Nacht und Freude mit euch allen.
    Als ich das Ende des Lieds erreicht habe, fällt mir auf, dass Rainbow nicht mitgesungen hat. Die Worte hallen durch meinen Kopf. Doch weil ich unser Schicksal sah, dass ich muss fort und du bleibst da …
    Ahnte Dad bereits, dass dies sein Schicksal werden würde? Er ist gegangen und hat uns zurückgelassen. Aber von Freude kann keine Rede sein.
    Das helle Kaminfeuer sticht mir in die Augen, also senke ich den Blick.
    »Warum hast du nicht mitgesungen, Rainbow?«, fragt Patrick. »Du kennst doch das Lied.«
    Doch Rainbow schüttelt den Kopf. »Es wäre nicht richtig gewesen. Sapphy hat eine andere Stimme als ich.«
    »Eine schöne Stimme«, sagt Patrick. »Sie bringt einen zum Zuhören.«
    »Sie hat gut mit Dads Stimme zusammengepasst«, sagt Conor.
    »Ja«, stimme ich zu. Außerdem konnte Dad seine volle Stimme so gefühlvoll einsetzen, dass auch meine zur Geltung kam. Ich hatte schon ganz vergessen, wie es war, mit Dad zu singen.
    Nein, ich hatte es nicht vergessen. Ich hatte es nur verdrängt, gemeinsam mit all den anderen Dingen, an die ich nach seinem Verschwinden lieber nicht erinnert werden wollte.
    Sie nehmen meinen Abschied schwer …
    Nie im Leben hat sich Dad vorstellen können, wie viel Leid er uns durch sein Verschwinden beschert hat. Während ich in die Flammen starre, denke ich an jene Nacht, in der wir auf Dad gewartet und gewartet haben und er nicht nach Hause kam. Conor und ich kauerten nebeneinander auf der Treppe und wollten die Hoffnung nicht aufgeben, bis wir irgendwann doch dazu gezwungen waren. Conor ist in dieser Nacht erwachsen geworden. Ich weiß nicht, ob das auch für mich zutrifft. Ich habe seit damals jede Selbstsicherheit verloren.
    Statt uns zu streiten, sollten Conor und ich zusammenhalten. Indigo hat uns den Vater genommen. Also sollten wir es nicht zulassen, dass Indigo jetzt einen Keil zwischen uns treibt.
    Ich hebe den Kopf und lächele ihn an. Conor scheint in Gedanken zu sein, doch schließlich macht sich auch auf seinem Gesicht ein Lächeln breit. Es ist ein Lächeln, das sagt: Lass uns Freunde sein und nicht mehr streiten. Ich weiß sowieso nicht mehr, warum wir uns gestritten haben.
    »Du solltest in unserer Band sein, Sapphy«, sagt Rainbow. »Was ist mit dir, Conor? Singst du auch?«
    Conor lacht. »Meinen Gesang will ich dir lieber nicht zumuten. Ich höre mich an wie ein Frosch. Quak, quak, quak. Sogar der Schulchor hat sich geweigert, mich aufzunehmen.«
    Ich muss auch lachen. Conor hört sich an wie Mum. Die beiden summen wie Bienen und versuchen, hin und wieder einen richtigen Ton zu treffen. Eigentlich kann man es gar nicht singen nennen.
    Tu Conor nicht unrecht, Sapphy. Denk dran, wie er mit seinem Gesang die Wächterrobben beruhigt hat. Was für eine mächtige Wirkung seine Stimme damals hatte. Die Erinnerung nimmt mich ganz und gar gefangen. Fast meine ich die Töne mit den

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