Nixenfluch
einmal durchmachen. Und diesmal wollen sie, dass du ein Teil davon wirst. Aber denk daran, Sapphire, dass du eine Wahl hast. Niemand kann dich auf einen Weg führen und dich zwingen, ihn auch zu benutzen. Nein, mein Mädchen. So sehr dich die Mer auch bezaubert haben mögen, denke immer daran, dass dein Blut zwei gleiche Teile besitzt. Du bist halb Mer und halb Luftwesen, und deine Füße sind in der Erde verwurzelt. Es ist ein süßer Gesang, den sie in Indigo anstimmen, aber lass nicht zu, dass deine eigene Stimme ertrinkt.«
Erneut läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Es ist kalt hier draußen und mein Fahrrad ist schwer. Ich bin müde und will nach Hause. Aber ich kann jetzt nicht nach Hause gehen. Wenn ich es tue, wird Mum erfahren, dass ich niemals in St. Pirans war. Ich muss in die Stadt fahren und dem wütenden Conor begegnen.
»Du kannst mit zu mir kommen, Sapphire«, schlägt Granny Carne vor, als könne sie meine Gedanken lesen.
Aber das kann ich nicht tun. Ich habe schon einmal in Granny Carnes Haus geschlafen, das sich eng an die Hügel schmiegt. Es ist zu viel Erdmagie in den weißen Räumen, den Bienenstöcken und Gemüsebeeten, dem Feuer, das niemals erlischt, und dem Buch des Lebens, dessen Wörter einem wie zornige Bienen entgegenschwirren, wenn man sie aufschreckt. Dort gehöre ich nicht hin.
»Ich muss jetzt zu Conor fahren, Granny Carne.«
Granny Carne begleitet mich bis zur St. Pirans Road. Das Fahrrad quietscht, der Kies unter unseren Füßen knirscht. In der Ferne bellt ein Fuchs, während das Rauschen der Brandung zu uns heraufdringt.
»Jetzt beeil dich, mein Mädchen, bevor es stockdunkel ist«, sagt Granny Carne. Dann greift sie in die Tasche ihres abgenutzten, erdfarbenen Rocks. »Ich hab hier noch etwas für dich«, sagt sie, öffnet ihre Hand und zeigt mir ein paar vertrocknete Beeren.
»Was ist das?«
»Das sind Vogelbeeren. Die Früchte der Eberesche.«
»Von letztem Herbst?«
»Vielleicht von letztem Herbst. Vielleicht sind sie aber auch schon viel älter. Ich kann mich nicht genau daran erinnern. Nimm sie, mein Mädchen. Ich habe dir doch schon erzählt, dass die Eberesche dich beschützt. Conor soll seinen Talisman bekommen.«
Am liebsten hätte ich protestiert, denn so ist es verkehrt herum. Conor hat etwas aus Indigo bekommen, das Elvira selbst angefertigt hat. Aber Conor ist stärker an die Erde gebunden als ich das bin. Und jetzt bekomme ich etwas, das Erdmagie in sich trägt, das mir in Indigo aber kaum von Nutzen sein kann.
»Nimm die Beeren, Sapphire.«
Sogar meine Hand zuckt zurück. Die Eberesche stößt mich ab, so wie in unserem Garten. Ich will sie nicht anfassen.
»Nimm sie!«
Ich kann mich Granny Carne nicht widersetzen. Ich zwinge mich, die Hand auszustrecken, und plötzlich ist die Barriere verschwunden. Die dunklen, verschrumpelten Vogelbeeren liegen so warm in meiner Hand, als hätten sie die Hitze der Sonne gespeichert. Das ist so, weil sie in Granny Carnes Tasche waren, sage ich mir rasch. Jetzt stecke ich sie mir selbst in die Tasche, obwohl ich es eigentlich nicht will. Ich kann sie ja immer noch wegwerfen, wenn Granny Carne außer Sichtweite ist.
»Pass gut auf die Beeren auf und nimm sie stets mit, wo auch immer du bist.«
»Auch nach Indigo?«
»Auch nach Indigo. Frag mich nicht nach dem Grund. Verwahre sie gut und halte sie versteckt. Lass niemand wissen, dass du sie hast.«
»Aber werden sie in Indigo nicht völlig nass?«
Granny Carne lacht. »In ihnen ist so viel Leben, mein Mädchen, dass ihnen ein bisschen Salzwasser nichts anhaben kann.«
»Darf ich sie Conor zeigen?«
»Nein, zeig sie niemand, nicht einmal Conor. Halte sie gut versteckt.«
Sie hebt eine Hand zum Abschiedsgruß. Und schon im nächsten Moment wird sie von der Dunkelheit verschluckt. Der Weg ist immer noch steil, also muss ich heftig in die Pedale treten. Ich blicke nicht mehr zurück. Die Beeren scheinen in meiner Tasche zu brennen, doch weiß ich bereits, dass ich mich nicht trauen werde, sie wegzuwerfen.
Sechstes Kapitel
E s ist spät geworden. Conor, Sadie und ich sitzen am Feuer. Im Haus von Rainbow und Patrick ist immer noch kein Strom, weil nach dem Hochwasser erst neue Elektroleitungen verlegt werden müssen. Bis dahin benutzen sie Kerzen und Öllampen und haben einen Holzofen, um Wasser heiß zu machen.
Ich sitze auf einem Kissen auf dem Fußboden. Sadies Kopf ruht auf meinem Knie. Ihre Augen sind halb geschlossen. Sie döst vor sich hin.
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