Nixenfluch
mal zur Seite und komm rüber zu mir. Im Kerzenlicht siehst du’s besser.«
Widerwillig schiebe ich die so angenehm warme Sadie von meinem Bein herunter. Sie stößt einen leisen Protestlaut aus.
»Arme Sadie, komm her, du kannst deinen Kopf auf mein Kissen legen.«
Das Kerzenlicht flackert, als ich halb um Conors Sessel herumgehe.
»Wenn du da stehst, ist die Figur im Schatten. Komm her, Saph, siehst du’s jetzt?«
Ich betrachte die leere Gesichtsfläche des Mer-Manns. Sie ist völlig ausdruckslos. Doch dann sehe ich, dass eine wellenförmige Bewegung über die leere Fläche geht, wie das Rollen des Meeres, bevor die Welle bricht.
»Da! Hast du’s jetzt gesehen?«
»Ähm, ich bin nicht ganz sicher …« Nein, es muss eine optische Täuschung gewesen sein. Das Gesicht ist immer noch völlig leer.
»Weißt du, Saph, es hört sich zwar unglaublich an, aber findest du nicht … findest du nicht, dass er ein bisschen so aussieht wie ich?«
»Nein, Conor!«
Ehe ich mich besinnen kann, habe ich die Worte bereits ausgestoßen, ängstlich und aggressiv zugleich. Sadie springt auf und schießt bellend auf uns zu.
»Leg dich hin, du verrückter Hund! Leg dich wieder hin!«, sagt Conor.
»Sie ist nicht verrückt. Sie hat nur Angst vor dem Talisman.«
Ich lasse mich auf die Knie sinken, schlinge meine Arme um ihren Hals und tätschele sie beruhigend. Ein Knurren dringt aus der Tiefe ihrer Kehle.
»Ganz ruhig, Sadie. Hab keine Angst. Die Figur tut dir nichts.«
Doch Sadie hört nicht zu knurren auf. Schließlich bleibt mir nichts anderes übrig, als sie in die kleine Teeküche zu sperren, damit sie sich beruhigt. »Du bleibst hier, mein Schatz, dann brauchst du den schrecklichen Talisman nicht mehr anzusehen«, flüstere ich ihr ins Ohr, bevor ich die Tür hinter mir schließe und ins Wohnzimmer zurückgehe.
»Der sieht wirklich aus wie ich«, wiederholt Conor mit sanfter Stimme, während er verwundert den Talisman anstarrt, so wie andere Leute das Pendel eines Hypnotiseurs anstarren.
Ich strecke den Arm aus, schnappe mir den Talisman aus seiner Hand und stecke ihn wieder in meine Tasche. »Können wir jetzt endlich miteinander reden?«
Conor reibt sich die Augen, als wäre er nach langem Schlaf erwacht. Dann lächelt er mich an. Es ist ein ganz normales freundliches Conor-Lächeln statt des dämlichen Ausdrucks, mit dem er die ganze Zeit den Talisman angeglotzt hat.
»Zuerst über die Tiefe«, beginne ich so geschäftsmäßig wie ein Lehrer, der das Thema der Hausaufgabe bekannt gibt.
Doch im nächsten Moment ist ein lautes Klappern an der Tür zu hören, bevor sie aufgerissen wird und Rainbow und Patrick über die Schwelle stürzen.
»Ich bin zuerst!«, ruft Patrick.
»Du hast mir ein Bein gestellt, das zählt nicht!«
Wie beruhigend zu sehen, dass der ernste, verantwortungsvolle Patrick manchmal genauso kindisch sein kann wie wir.
»Es geht darum, wer zuerst da ist. Auf das Wie kommt es nicht an«, stellt Patrick zufrieden fest.
»Na warte«, gibt Rainbow zurück. »Sagt mal, ist es wirklich schon Mitternacht? Wir hatten so eine super Probe, Sapphy. Nächstes Mal musst du unbedingt mitkommen. Spielst du auch Gitarre, so wie Conor?«
»Die spielt nur mit den Gefühlen anderer Leute und ein bisschen Triangel«, antwortet Conor. »Erzähl doch Rainbow mal von deiner tragenden Rolle in der Schulband.«
»Lass gut sein, Con.«
»Du siehst so aus, als könntest du auch singen«, sagt Rainbow.
»Mit Dad habe ich manchmal gesungen.«
»Ehrlich? Was für Lieder?«
»Ach, irgendwelche alten Volkslieder …«
Rainbow wärmt ihre Hände am Feuer. »Sing mal eins davon. Wenn ich es kenne, singe ich mit.«
Aus ihrem Mund hört sich das wie die einfachste Sache der Welt an. Als könnte jeder einfach so seinen Mund aufmachen und in Gegenwart anderer Leute ein Liedchen trällern. Als gäbe es niemand, dem das unangenehm oder peinlich wäre. Patrick scheint genauso zu sein wie seine Schwester. Während er auf dem Kaminvorleger sitzt und sich den Sand aus den Turnschuhen schüttelt, blickt er zu mir auf und sagt: »Ja, sing mal was, Sapphy. Vielleicht kennt Rainbow den Song.«
Verschiedene Lieder gehen mir durch den Kopf. Nicht O Peggy Gordon . Das ist zu mächtig … und es verrät zu viel. Ach wäre ich doch in Indigo … Nein, das kann ich auch nicht singen. Doch mir fällt noch ein anderes ein.
»Es ist ein irisches Lied«, sage ich langsam. »Dad hat es manchmal am Ende des Tages im Pub gesungen.« Ich
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