Nixenfluch
schneller schwimmen? Ich hab dich schon wieder aus dem Blick verloren. Das erinnert mich an die Zeit, als meine Kinder noch klein waren. Die haben unter meinem Kiefer auch immer Verstecken gespielt.«
»Wirklich?« Ich frage mich, ob das nicht ziemlich gefährlich war. Was wäre passiert, wenn die Mutter den Mund geöffnet und sie – natürlich aus Versehen – eingesaugt hätte?
»Es kommt mir so vor, als sei es gestern gewesen. Aber es sind immer noch meine Babys, ganz egal, wie groß sie geworden sind. Ihre kleinen Flossen haben so schön gekitzelt … ach, das vergisst man nie.«
»Die sind doch bestimmt ziemlich groß heute.« Ich rudere mit den Armen, um an einer Stelle zu bleiben, wo sie mich sehen kann.
»Groß genug, kleiner Nacktfuß. Deine Mutter muss ziemlich traurig sein, dass du nicht wächst. Du solltest die Beine zusammenhalten, vielleicht wird ja noch eine Flosse daraus. Die Delfine lehren uns, dass das möglich ist. Das nennt man Evolution «, fügt sie stolz hinzu.
Was würde wohl Mum dazu sagen, wenn sich ihre Tochter allmählich in einen Wal verwandelte? Vielleicht könnte ich die Schwanzflosse in meinem Zimmer unterbringen, der Rest von mir müsste wahrscheinlich im Garten liegen …
»Ich glaube, meine Mum mag mich so, wie ich bin.«
»Sie muss es ja wissen. Ich würde sie gern mal kennenlernen. Wir haben bestimmt vieles gemeinsam.«
Schwer sich vorzustellen, worüber sie reden würden. Mum wäre zu Tode erschrocken, wenn sie mich jetzt sehen könnte, inmitten des Meeres, beim Plausch mit einem Wal. Jedenfalls glaube ich das. Andererseits würde sie dem Wal vertrauen. Würde spüren, wie gutmütig er ist. Außerdem habe ich das Gefühl, dass die Walmutter sich einsam fühlt. Ihre Kinder sind bestimmt alle erwachsen und längst fortgeschwommen. Ich frage mich, was für ein Gefühl es ist, so riesig zu sein …
Müssen Conor und Faro immer noch bei Saldowr in der Höhle bleiben? Ich wünschte, sie wären hier. Ich möchte sie dem Wal vorstellen. Ich blicke zurück in Richtung Eingang, kann sie aber nirgendwo sehen. Ich frage mich, warum Saldowr sie nicht hinauslässt. Er wird doch keine Angst haben, dass der Wal irgendjemand verletzen könnte.
Ich schwimme um sie herum, bis ich ihr direkt ins Auge sehen kann. Es ist völlig unmöglich, gleichzeitig in beide Augen zu gucken – es sei denn, man ist ebenfalls ein Wal.
»Ich bin froh, dass du dich an mich erinnerst, Kleine. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.«
»Wie sollte ich dich je vergessen? Ohne dich wäre ich niemals aus der Tiefe herausgekommen.«
»Tja, unsere Größe ist für uns Wale oft ein Vorteil. Das war wirklich eine Kleinigkeit«, versichert sie. Trotz ihrer Größe wirkt sie nicht nur geschmeichelt, sondern auch ein bisschen verlegen.
Das ist meine Chance.
»Könntest du mich vielleicht noch mal … in die Tiefe mitnehmen?«
Ihr dunkles Auge blickt mich nachdenklich an. »Noch mal in die Tiefe? Wozu soll das gut sein? Für die Tiefe bist du nicht geeignet. Ich dachte, das hättest du inzwischen begriffen.«
Sie klingt so sicher, dass mein Entschluss ins Wanken gerät. Vielleicht hat sie ja recht. Will ich wirklich noch mal an diesen dunklen Ort, der überhaupt keine Orientierung zulässt? Dort unten weiß ich nicht mal, wo sich die Oberfläche befindet. Wenn sie mich nicht mitnehmen will, dann ist die Sache zum Scheitern verurteilt. Niemand könnte mir etwas vorwerfen. Ich hätte es ja immerhin versucht.
Unsinn. Du hättest es nicht versucht. Du wärst vor dem Problem davongelaufen. Auch wenn die anderen das nicht wissen – du weißt es. Und stell dir nur vor, Saldowr in die Augen zu sehen, während du beteuerst: »Ich habe ihn wirklich zu überreden versucht, aber der Wal wollte mich partout nicht mitnehmen.«
»Aber ich muss in die Tiefe. Eigentlich will ich es ja nicht, aber die Mer brauchen meine Hilfe. Es geht um die Kinder und den Kraken, du weißt schon …«
Der Wal antwortet nicht, sondern sieht mich nur schweigend an. Sanft, geduldig und alles andere als überzeugt.
Salz kitzelt an meinem Gaumen. Ich erinnere mich an Faros Worte: In deinem Herzen bist du eine Mer. Egal, ob das stimmt oder nicht, in diesem Moment fühle ich tatsächlich, wie Mer-Blut durch meine Adern rauscht. Wörter prickeln auf meiner Zunge und erreichen meine Lippen: » An Kraken … an Kraken … nownek. Peryl ha own … Lieber Wal, bitte hilf mir.«
Die Wörter kitzeln in meinem Mund, als wären sie elektrisch
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