Nixenfluch
geladen. In die Tiefe vorzudringen ist schwierig und gefährlich – aber nicht unmöglich.
» Da yw genev« , murmelt der Wal. Erleichterung flutet durch mich hindurch. Sie hat zugestimmt. Sie wird mir helfen.
Sie bewegt ein bisschen ihren Kopf. Das aufwirbelnde Wasser drückt mich zur Seite. Mit aller Kraft schwimme ich an meinen Platz zurück.
»Würdest du … dich bitte nicht so heftig bewegen?«
»Nicht so heftig bewegen?« Der Wal schüttelt sich vor Lachen, passt aber gleichzeitig auf, nicht zu große Wellen zu erzeugen. Ich schaukele im Wasser, werde aber nicht weggespült. »Wenn du das Bewegung nennst, meine Kleine, muss es bei euch da oben ja ganz schön langweilig sein. Wenn ich doch nur ein paar neue Witze gelernt hätte, dann könnte ich sie dir jetzt erzählen. Ein Riesenhai hat mir erst neulich einen Witz über einen Anglerfisch erzählt, doch leider habe ich die Pointe vergessen. In deinem Alter solltest du dich mit Witzen und nicht mit Sorgen und Nöten beschäftigen. Die kommen noch früh genug«, fügt sie seufzend hinzu.
Witze! Das ist definitiv keine Zeit für Witze, schon gar nicht für Wal-Witze. »Aber der Krake …«
»Ich weiß schon, mein Kind«, sagt sie ruhig. »Wir Wale waren die Ersten, die die Nachricht überbracht haben, dass der Krake erwacht ist.«
»Aber hast du denn gar keine Angst? Der Krake ist ein Monster!«
»Ja, er ist ein Monster. Aber was kann er mir schon anhaben?«
Ich starre sie ungläubig an. Offenbar ist der Krake zu allem imstande. Warum hat sie keine Angst?
»Die Mer sagen, dass es Mab Avalon vor langer Zeit geschafft hat, den Kraken wieder zum Schlafen zu bringen. Hast du schon mal von Mab Avalon gehört?«
»Als meine Kinder noch klein waren, haben sie immer ein Spiel gespielt: Einer war der Krake, der andere Mab Avalon.«
»Hast du zwei Kinder?«
»Ja, einen Sohn und eine Tochter.«
»So wie ich und Conor.«
In ihrer Gegenwart fühle ich mich sicher und geborgen. Sie ist wie eine Großmutter. Am liebsten würde ich ständig bei ihr sein, mit ihr reden und durchs Wasser gleiten, mir Witze erzählen lassen, mehr von ihrer Familie und ihrer Einsamkeit erfahren.
»Ich habe mich einverstanden erklärt, dich in die Tiefe mitzunehmen«, sagt der Wal, »aber du musst wissen, dass du dich in Gefahr begibst.«
»Das weiß ich.«
»Tust du das wirklich, kleiner Nacktfuß? Hast du je ein blutrotes Meer gesehen?« Die Stimme des Wals ist tiefer geworden. »Versteh mich richtig, meine Kleine. Ich warne dich, weil ich mich um dich sorge, nicht um dir Angst zu machen.«
Genau wie Mum , denke ich.
»Mein Bruder wird mich begleiten. Er hat einen Talisman.«
Selbst in meinen Ohren hört sich das ziemlich kläglich an. Was soll eine kleine Korallenfigur schon gegen ein Monster ausrichten, das Indigo seit Tausenden von Jahren terrorisiert? Der Wal scheint derselben Meinung zu sein, denn er geht nicht auf den Talisman ein.
»Ich werde dich mitnehmen. Da yw genev. Ich werde dich beschützen, so gut es geht.«
»Danke, lieber Wal. Und nimmst du auch meinen Bruder mit?«
»Ja. Ich werde hier auf euch warten, während du ihn holst.«
»Aber … wir wollen doch nicht jetzt aufbrechen. Wir müssen erst mal nach Hause und einen Plan ausarbeiten.«
»Bist du sicher?«, fragt der Wal sanft. »Ich denke, jetzt ist die richtige Zeit. Jetzt oder nie. Vielleicht wäre nie besser, kleiner Nacktfuß. Nie ist jedenfalls sicherer. Wenn ich deine Mutter wäre, würde ich mich für nie entscheiden. Aber wenn nie nicht infrage kommt, dann muss es jetzt sein.«
Zehntes Kapitel
K eine Zeit mehr, um Mum noch einmal zu sehen. Keine Zeit, um mich von Sadie zu verabschieden. Alles geht viel zu schnell.
Dad hat mir immer gesagt, dass ich nichts für die Zukunft versprechen soll, was ich nicht auch heute tun würde. Manche versprechen dir das Blaue vom Himmel herunter, Sapphy.
Ich schwimme wieder nach unten und gleite durch die Öffnung von Saldowrs Höhle. Zu meiner Verblüffung ist sie jetzt hell erleuchtet, obwohl der Wal immer noch den Eingang blockiert. Meine Augen brennen, weil sie geblendet werden. Kleine funkelnde Lichtpunkte befinden sich überall an den Wänden, an der Decke, sogar um Saldowrs Steinliege herum. Sie erinnern mich an die Punkte, die mich aus dem Tunnel herausgelotst haben, doch diese sind viel, viel heller. Ich kann nicht einmal die kleinen Kreaturen sehen, die das Licht aussenden, weil sie von ihm überstrahlt werden. Es ist ein leuchtend grünes und
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