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Nixenfluch

Nixenfluch

Titel: Nixenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Dunmore
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warten. Ich kriege schon meinen Willen – wenn nicht jetzt, dann später, sagt sein Gesicht aus.
    Wenn Saldowr stirbt, wird uns niemand mehr vor Ervys schützen können. Wenn Saldowr stirbt …
    Nein, das kann nicht geschehen. Wir werden nicht zulassen, dass es geschieht. Wenn wir in die Tiefe hinabtauchen – den Kraken aufhalten –, wird Indigo wieder sein wie zuvor, und auch Saldowr wird wieder so sein, wie wir ihn kennengelernt haben: groß, stark und voller Leben.
    Der Wal wartet. In meinem Unterbewusstsein spüre ich die ganze Zeit ihre Gegenwart. Ihren gewaltigen Körper mit der ledrigen Haut eines Elefanten. Ihren kantigen Kopf mit den scharfen Zähnen, die mich, würde ich sie nicht besser kennen, in Angst und Schrecken versetzen müssten. So was wie dich fressen wir nicht, kleiner Nacktfuß.
    Ihre enorme Schwanzflosse, die ein ganzes Boot zerschmettern könnte. Ihr sensibles Echolot, das einen riesigen Tintenfisch am Meeresgrund, Tausende Meter unter der Oberfläche, aufspürt. Und ihr gewaltiges Herz. Conor hat mir einmal in einem seiner Bücher gezeigt, dass das Herz eines Pottwals so viel wiegt wie zwei ausgewachsene Männer. Ich denke an das Herz in ihrem Innern, das pumpt und pumpt und sich auf die Reise in die Tiefe vorbereitet.
    Ich schaue zu Ervys hinüber. Wie groß ist dein Herz? Du behauptest, alles nur im Interesse von Indigo zu tun, weil Saldowr schwach ist und die Mer nicht mehr vor Gefahren beschützen kann. Du willst derjenige sein, der sie vor dem Kraken beschützt und dafür den Ruhm erntet. Die Mer werden so dankbar sein, dass sie dir alles geben werden, wonach du verlangst – und dich sogleich zu ihrem Anführer ernennen.
    Sie sind zu dicht beieinander. Saldowr und Ervys sollten mehr Abstand halten. Man fühlt die Abstoßung zwischen ihnen, als wären sie zwei Magnete.
    Was macht Conor da? Auf ein Murmeln von Saldowr hin taucht er hinter Faro hinab. Plötzlich sehe ich, dass er Saldowrs Spiegel in der Hand hält. Er blickt ihn nicht an, reibt jedoch über seine metallene Rückseite. Poliert sie.
    »Gib mir den Spiegel, Conor«, sagt er. Conor tut, was er verlangt. Als Saldowr ihn in die Hand nimmt, blitzt die Metallfläche auf, als entlade sich ein plötzliches Gewitter am sommerlichen Himmel. Das stumpfe Metall ist mit einem Mal spiegelblank. Ervys und seine Begleiter heben die Hände in einer Geste, an die ich mich aus dem Versammlungsraum erinnere: Sie legen ihre überkreuzten Finger an die Stirn, als wollten sie ein Übel abwehren.
    »Wie ich sehe, hast du meinen Spiegel für mich geputzt, Conor«, sagt Saldowr. »In all den Jahren haben wir es nie vermocht, seine Fläche zum Glänzen zu bringen, nicht wahr, Faro? Vielleicht hat er auf diese Gelegenheit gewartet. Auf dich gewartet, Ervys, was glaubst du?«
    Ervys antwortet nicht.
    »Ja, so wird es sein«, fährt Saldowr fort. »Ich glaube, mein Spiegel weiß, dass du da bist. Er will dich sehen, Ervys.«
    Ervys’ Hände fallen an seine Seite. Widerstrebend folgen die Begleiter seinem Beispiel. Ihr Widerwille steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie sind verwirrt, fühlen sich unwohl, schauen beklommen zwischen Ervys und Saldowr hin und her, weil sie nicht wissen, was sie tun sollen.
    »Du bist uneingeladen bei mir erschienen«, sagt Saldowr. »Du hast Zweifel am Mut dieser Kinder geäußert. Dann lass uns sehen, wie es um deinen Mut bestellt ist, Ervys. Schau in meinen Spiegel.«
    Zwischen Ervys und seinen Begleitern ist eine schmale Lücke entstanden. Ja, sie haben begonnen, sich von ihm zu distanzieren. Sich unmerklich zurückzuziehen. Er ist zu klug, um nicht zu wissen, was das heißt. Er schwimmt nach vorn.
    »Dein Spiegel macht mir keine Angst«, sagt er.
    Doch offenbar ist das Gegenteil der Fall. Die Farbe ist aus seinem Gesicht gewichen. Seine Lippen sind nur noch ein schmaler Strich. Dennoch streckt er seine Hand aus.
    »Sieh genau hin«, fordert Saldowr ihn auf und dreht ihm die blitzende Metallfläche zu.
    Um Ervys herum scheint das Wasser zu Eis zu gefrieren. Seine Haare werden wie von einer unsichtbaren Strömung nach oben gehoben, bis sie ihm um den Kopf stehen wie ein Heiligenschein. Seine Augen starren unbeweglich in den Spiegel.
    »Bleib so stehen, Ervys«, murmelt Saldowr. »Rühr dich nicht vom Fleck und nimm die Lehre meines Spiegels entgegen.«
    Wie naiv ich doch war, zu glauben, Saldowr sei wie ein gutmütiger Magier aus einem Kinderbuch. Ervys ist unbefugt in die Wälder von Aleph und in Saldowrs Höhle

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