Nixenfluch
mehr dafür, ob wir rufen oder flüstern, weil wir fast taub geworden sind.«
»Conor!« Ich finde seine Hand und drücke sie. Conors Hand erkenne ich sofort, selbst hier auf dem Grund der Welt. Er drückt zurück, und mein Herz wird von einer grenzenlosen Erleichterung erfüllt. Er lebt.
»Beeil dich, Kleine. Ihr alle, kommt nach vorn. Dann werde ich eine Welle erzeugen, die euch zur Höhle des Kraken trägt.«
Ich spüre, wie sich die Jungs vorsichtig in Bewegung setzen. Die Stimme des Wals begleitet mich. »Alles in Ordnung, kleiner Nacktfuß? Hat dir das Tauchen wehgetan?«
»Nicht das Tauchen«, flüstere ich, »aber der Krach.«
Noch immer höre ich meine Stimme nicht klar und deutlich. Sie klingt so dumpf, als spräche ich in meinem eigenen Kopf. Der Druck der Tiefe lastet auf mir. Denk nicht daran. Du darfst nicht daran denken, wie schwer das Wasser oder wie weit der Weg an die Oberfläche ist. Als würde man am größten Wolkenkratzer der Welt hinaufblicken.
Nein, selbst das reicht nicht aus. Wie tief können Wale tauchen? Pottwale gehören in jedem Fall zu den Tieren, die am tiefsten tauchen können, daran kann ich mich erinnern.
Denk nicht daran.
Ich ziehe diesen Gedanken fort, so wie ich ein Baby von der Kante einer Klippe fortziehen würde.
Wie in Zeitlupe gleiten wir am Körper des Wals entlang, als würden unsere Arme und Beine von schweren Gewichten nach unten gezogen. Conors Hand lasse ich nicht los. Solange wir zusammenbleiben und aufeinander achtgeben, werden wir überleben. Faro schwimmt auf der anderen Seite von Conor, hält sein Handgelenk umfasst, gibt ihm Kraft und Sauerstoff.
Wir gleiten an ihrer breiten Flanke entlang. Ich versuche mich zu erinnern, wie der Kiefer eines Pottwals geformt ist, weil wir einen Weg um ihn herum finden müssen. Sie verharrt regungslos im Wasser und wartet auf uns.
Ich weiß, dass ihr Kopf kastenförmig ist. Kinder malen Pottwale, wenn sie Wale malen. Ob ihr Kiefer offen steht? Was ist, wenn sie uns versehentlich als Nahrung betrachtet?
Sei nicht dumm, Sapphire. Hier in der Tiefe hat sie viel mehr Wissen als du. Durch ihr Echolot weiß sie, wer wir sind und wo wir uns aufhalten. Für sie ist alles einfach und klar – nur wir Menschen sind hier unten gefangen und müssen ohne unser Augenlicht auskommen.
Aber sie wird uns verlassen. Wir werden auf uns allein gestellt sein. Sie sagt, dass sie zurückkommen wird, doch bis es so weit ist, wird es vielleicht keinen von uns mehr geben.
Ihre Stimme ist wie das Heulen des Windes. So riesige Kreaturen können nicht wirklich flüstern, aber sie tut ihr Bestes. »Kommt nach vorn, kommt nach vorn, ihr müsst jetzt allein weiterschwimmen.«
»Aber woran merken wir, dass wir die Höhle des Kraken erreicht haben? Es ist so dunkel, dass wir nichts erkennen können.«
»Ihr werdet es wissen. Er macht sein eigenes Licht. Aber darüber reden wir Wale weiter oben nicht.«
Wir müssen uns jetzt direkt vor dem Wal befinden. Das Dunkel breitet sich vor uns aus wie schwarze Tinte. Wir müssen uns von ihrem Körper lösen, der uns bis jetzt beschützt hat, und allein in der Tiefe zurechtkommen.
»Schwimmt noch ein Stück weiter, dann werde ich euch auf den richtigen Weg bringen.« Conor greift nach meiner Hand, und zum ersten Mal, seit wir in der Tiefe sind, höre ich seine Stimme.
»Saph?«
»Conor!«
Seine Stimme klingt gequetscht, doch ist es unverkennbar die Stimme meines Bruders.
»Bist du okay, Saph?«
»Ja, alles in Ordnung.«
»Mein Kopf dröhnt nicht mehr, ich kann wieder normal hören.«
Der Wal ist jetzt hinter uns. Selbst wenn ich meinen Arm ausstrecke, kann ich sie nicht mehr berühren. Geh nicht weg , flehe ich im Stillen. Lass uns nicht allein in der Tiefe.
Vielleicht hat der Wal meine Gedanken empfangen. Ihre murmelnde Stimme dringt so leise an mein Ohr, dass sie kaum zu verstehen ist. »Wenn du willst, kleiner Nacktfuß, nehme ich dich mit nach oben.«
Ich will es ja sosehr. Als wäre ich wieder fünf Jahre alt und wollte nichts lieber, als von der Schule direkt in Mums Arme zu laufen, um mein Gesicht in ihrem Rock zu verstecken. Ich möchte beim Wal geborgen sein und alle Erinnerungen an die Tiefe aus meinem Gedächtnis streichen. Wenn ich mich ihr doch nur anschließen könnte, um niemals hierher zurückzukommen.
Aber ich bin nicht fünf Jahre alt. Und ich bin nicht allein. Conor und Faro sind bei mir. Sie vertrauen mir. Ich habe Ervys zugesichert, dass ich in die Tiefe zurückkehren würde.
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