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Nixenfluch

Nixenfluch

Titel: Nixenfluch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Dunmore
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Erwartung der Flut.
    »Conor?«
    »Alles okay, Saph. Ich bin hier.«
    Die dunklen Gezeiten der Tiefe umgeben uns. Wir können nichts tun als zu warten und zu hoffen, dass der Wal den Glauben an uns nicht verloren hat. Wenn uns irgendjemand in dieser undurchdringlichen Finsternis ausfindig machen kann, dann sie. Pottwale haben das beste Sonarsystem der Welt, sage ich mir immer wieder. Sie wird uns mit ihrem Walradar orten – drei kleine Echos, weit von ihr entfernt, doch sie wird uns zielgenau entgegentauchen.
    Was ist, wenn sie uns dabei zu nahe kommt? Dann würde sie uns mit ihrem Gewicht zerquetschen. Und selbst wenn wir den Zusammenstoß überlebten, würden wir zerschmettert auf den Meeresgrund sinken.
    Doch an so etwas darf ich nicht denken. Ich muss meine Zuversicht behalten.
    Ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Habe keine Ahnung, wie lange wir schon hier sind. Weiß auch nicht, welcher Tag heute ist. Über Mum und Roger und allem, was mit zu Hause zu tun hat, liegt ein dichter Nebel. An Sadie wage ich gar nicht zu denken.
    »Als würde man auf den Bus nach St. Pirans warten«, sagt Conor plötzlich.
    »Bus?«, höre ich mein erstauntes Echo. Die Vorstellung eines Busses liegt mir so fern, dass ich anfangs nicht weiß, was Conor damit meint.
    »Bus?«, fragt Faro betont beiläufig, weil er überspielen will, dass er nicht weiß, worüber gerade geredet wird.
    »Der Bus von Senara nach St. Pirans geht nur zwei Mal am Tag«, erklärt Conor, »und trotzdem verpasst man ihn ständig. Da kann man am besten gleich laufen.«
    Conors ungetrübte Erinnerung an die Menschenwelt setzt auch bei mir einen gefährlichen Schwall von Erinnerungen in Gang. Der Nebel, der alle Gedanken an die Erde umgibt, wenn ich in Indigo bin, lichtet sich ein wenig. Dafür werde ich plötzlich von Sehnsucht gepackt. Wenn Conor doch nur das Wort »laufen« nicht gesagt hätte. In der Abendsonne über das weiche, elastische Gras zu laufen. Über den harten, kalten Sand zu laufen, nachdem das Wasser sich zurückgezogen hat, und dabei Fußabdrücke zu hinterlassen wie diejenigen, die Robinson Crusoe auf seiner Insel entdeckt hat. Oder auf dem Asphalt der Straße den Hügel hinaufzulaufen, den Geruch von Teer, Staub und Benzin in der Nase …
    Ich darf das nicht tun. Ich muss dafür sorgen, dass meine Erinnerungen sich wieder in Nebel hüllen. Die Tiefe bereitet mir plötzlich Schmerzen. Ich habe Angst. Der Druck presst mich zusammen, meine Rippen drohen zu brechen. Es ist deine eigene Schuld, sage ich mir ärgerlich. Du hättest nicht an Sand und Straßen und all die anderen Dinge, die es auf der Erde gibt, denken sollen. Nachdem Conor damit angefangen hat, ist die Luft in dich eingedrungen. Lass sie wieder entweichen. Du bist in Indigo. Indigo.
    Bei unserer ersten Begegnung hat der Wal mir erzählt, dass auch die Tiefe ein Teil von Indigo ist. Wie kann etwas nicht zu Indigo gehören, wo ich mich aufhalte? , hat sie gesagt. Sie hat über mich gelacht, doch ihr Lachen war voller Wohlwollen und Sympathie. Ich glaube, sie hält mich für viel jünger als ich bin. Vielleicht, weil Pottwalbabys unmittelbar nach ihrer Geburt schon eine Tonne wiegen. Damit verglichen muss ich ihr wie eine Kaulquappe vorkommen.
    Der Druck der Tiefe hat wieder nachgelassen. Conor und Faro sind bei mir, und der Wal ist auf dem Weg zu uns. Daran sollte ich stets denken.
    »Ich bin so müde«, sagt Conor, dessen Stimme sich plötzlich schwerfällig anhört. »Ich mach nur kurz die Augen zu, während wir warten.«
    »Auf keinen Fall!«, ruft Faro. »Du musst wach bleiben, Conor!«
    »Nur ein kleines Schläfchen …«
    Auch ich würde gern ein bisschen schlummern. Nachdem Conor es ausgesprochen hat, spüre ich ebenfalls eine bleierne Müdigkeit. An meinen Armen und Beinen scheinen Gewichte zu hängen. Nur ein kleines Schläfchen, bis der Wal kommt. Meine Lider brennen schon von der Anstrengung, die Augen offen zu halten. Der Druck der Tiefe zwingt sie nach unten. Ich will nichts als schlafen, für einen kurzen Moment alles um mich her vergessen und mich ein bisschen ausruhen …
    »Nein, Sapphire, nein!«
    »Nur ein bissch … Far …«
    Faros Nägel bohren sich in meinen Arm. »Sapphire, wach auf!«
    »Lass mich … ich bin doch wa…«
    »Lass … lass doch meine Schwes …«
    »Damit sie stirbt? Willst du das? Wir müssen durchhalten. Du musst wach bleiben, Conor!«
    Faros Stimme schwillt an und schrillt in meinen Ohren. Sie erreicht mein Gehirn und will mich wach

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