Nixenfluch
Sadie. Aber du könntest ja vielleicht bei anderen Leuten wohnen. Hör zu, Saph, warum ziehst du nicht einfach zu mir und Patrick, ich meine, falls es dir nichts ausmacht, mit mir ein Zimmer zu teilen. Für Sadie wäre das bestimmt kein Problem, solange du in der Nähe bist. Ich weiß ja, dass du St. Pirans nicht so toll findest, aber dann könntest du jedenfalls mit Sadie zusammen sein.«
Für Rainbow scheint es das Normalste auf der Welt zu sein, dass Kinder ohne ihre Eltern klarkommen. Ihre Mum und ihr Stiefvater sind ja auch immer wochenlang in Dänemark, ohne sich hier blicken zu lassen. Patrick und Rainbow scheinen damit keine Probleme zu haben. Sie kaufen ein und machen sich was zu essen, während Patrick sich auf das Abitur vorbereitet und nebenher noch in einem Surfshop arbeitet.
»Das würde Mum niemals erlauben«, entgegne ich resigniert.
»Aber warum denn nicht? Schließlich ist sie es, die nach Australien will. Und Roger. Was ist mit Conor?«
»Ich glaube, für den ist es ganz okay.«
»Gut, dann können sie ja alle machen, was sie wollen. Es zwingt sie ja niemand dazu. Bei meiner Mutter ist das genauso. Die ist ständig in Dänemark, weil es ihr da so unheimlich gut gefällt. Bei mir und Patrick ist das anders. Wir kennen dort niemand und sprechen auch kein Dänisch, also sind wir hier besser aufgehoben. Sie sind in Dänemark und wir sind hier und alle sind glücklich.«
Das hört sich so logisch an, aber …
»So ist meine Familie nicht«, sage ich.
»Vielleicht solltest du mal versuchen, etwas zu ändern«, sagt Rainbow mit blitzenden Augen. »Du wolltest damals ja auch nicht nach St. Pirans, stimmt’s? Und trotzdem seid ihr dorthin gezogen. Jetzt bist du so froh darüber, wieder in eurem alten Haus zu sein, und sollst schon wieder deine Sachen packen, obwohl du überhaupt keine Lust dazu hast. Das ist doch blödsinnig.«
»Vielleicht solltest du mal mit Mum reden.«
»Ja, vielleicht werde ich das auch tun.« Rainbow sieht fest entschlossen aus.
»War nur ein Scherz«, sage ich schnell.
»Überleg’s dir, Sapphy! Ich meine, wenn man zornig und traurig ist, sollte man dann nicht wenigstens versuchen, etwas zu ändern?«
*
Ich habe viel Zeit, mir Rainbows Worte durch den Kopf gehen zu lassen, denn als ich an Granny Carnes Haustür klopfe, bekomme ich keine Antwort. Sie wird bestimmt gleich wieder da sein, denke ich, denn aus irgendeinem Grund weiß sie meistens schon vorher, wenn Leute sie aufsuchen wollen.
Sadie und ich spazieren an ihrem Haus vorbei bis zum höchsten Punkt der Hügelkette. Dort befinden sich auch Granny Carnes Bienenstöcke. Aber ich gehe nicht zu ihnen, weil die Bienen mich nicht mögen. Ich nehme lieber den Weg durch das Heidekraut und den frisch ausgetriebenen Adlerfarn, bis ich die Hinkelsteine erreiche.
Es gibt eine Menge Geschichten über diesen unvollständigen Steinkreis. Es ist kein großer Kreis, so wie die Merry Maidens. Es gibt nur drei komplette Steine und ein paar Stumpen, doch man kann noch sehr gut erkennen, wo sich der Kreis einst befunden hat. Die Leute sagen, hier hätten früher einmal Opferriten stattgefunden, lange bevor das Christentum nach Cornwall kam. Andere Leute behaupten, dass hier nachts bei Vollmond immer noch Versammlungen stattfinden. Niemand weiß genau, wie lange diese Steine schon hier stehen oder wer sie dort hingestellt hat, aber vermutlich war das in der Bronzezeit.
Die Steine sind voller Erdmagie. Es bringt Unglück, sich innerhalb des Kreises aufzuhalten, und ich habe das auch nie getan. Sadie will es auch nicht, trotzdem halte ich sie vorsichtshalber dicht bei mir.
So viel Alter und Zeit sind hier oben vorhanden. Die Steine sind verwittert, doch Granit nutzt sich kaum ab. Auf einem der Steine gibt es eine Stelle, die Mädchen am Tag vor ihrer Hochzeit berühren. Ich hab mal ein altes Foto gesehen, auf dem eine Horde von Mädchen mitsamt der Braut hier heraufkommt. Die Braut trägt einen Blumenkranz, der vermutlich selbst gemacht ist und ein bisschen schief auf ihrem Lockenkopf sitzt. Ich glaube allerdings nicht, dass so etwas heute noch gemacht wird. Die Mädels sind doch meist viel zu beschäftigt, um Junggesellinnenabschiede zu feiern und sich die Beine zu enthaaren.
Ein paar Kohlweißlinge flattern aus dem Steinkreis hinaus und wieder hinein. Auf dem Stumpf eines liegenden Steins erkenne ich ein Zickzackmuster.
Als ich es näher betrachten will, setzt sich das Muster in Bewegung. Es ist eine Kreuzotter, die in der
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