Nixenjagd
Und immer schwang dabei dieses leise Schuldgefühl mit.
Am letzten Schultag bemerkte Franziska eine Gruppe Schüler aus ihrer Klasse, die sich lachend vor der Tür zum Klo der Jungen versammelt hatten. Franziska blieb neugierig stehen. Den Grund für die Heiterkeit bildeten mit knallrotem Lippenstift auf der weiß lackierten Klotür angebrachte anatomische Zeichnungen. Die Skizzen waren zwar nur rudimentär, aber man konnte zweifelsfrei erkennen, dass es sich um ein männliches und ein weibliches Geschlechtsteil handelte. Unter den Kunstwerken standen die Namen Paul + Franzi . Franziska war, als würde man ihr den Boden unter den Füßen wegziehen. Sie verspürte abwechselnd den Impuls, zu fliehen oder das Ganze wegzuwischen. Aber damit würde sie es weder ungeschehen noch ungesehen machen. Nein, es galt, cool zu bleiben, auch wenn sie innerlich vor Scham und Wut kochte. »Kann ich mal deinen Lippenstift haben?«, fragte sie Silke. Silke wedelte abwehrend mit den Händen. »Ich war das nicht, ehrlich. Meiner ist pink. Da schau!« Silke kramte rasch den Stift aus ihrem Täschchen. Es hing stets am tief sitzenden Gürtel ihrer Jeans, gleich unterhalb der kleinen Speckrolle. »Darf ich?« Franziska nahm Silke den Lippenstift aus der Hand und malte hinter das Wort Franzi ein kleines, rosarotes ska. »Danke«, sagte sie und gab der sprachlosen Silke den Lippenstift zurück. Sie reckte das Kinn und ging weiter. Hoffentlich, dachte sie, würde die Schule über die Ferien gründlich geputzt werden. Die Ausgabe der Jahreszeugnisse drängte die Zeichnungen an der Klotüre in den Hintergrund des Interesses. Franziska hatte in den meisten Fächern ein »gut« oder »sehr gut«, nur hinter dem Fach Mathematik stand »befriedigend«. Sie hätte gern Paul nach seinen Noten gefragt, aber der Gedanke an die Zeichnungen hielt sie davon ab. Bestimmt hatte auch er sie bemerkt. Vielleicht tat es ihrer Beziehung ganz gut, wenn sie sich ein paar Wochen nicht sahen. Danach war die kindische Angelegenheit hoffentlich vergessen. Franziska hatte Oliver im Verdacht. Aber was bezweckte er damit? Er war doch nicht etwa eifersüchtig? Er hatte sich doch bis jetzt nie für sie als geschlechtliches Wesen interessiert. Sie war das Mädchen, das drei Häuser weiter wohnte und das er schon aus der Sandkiste kannte. Hatte das Auftauchen von Paul etwas daran geändert? Derart in Gedanken versunken, kam Franziska bei den Fahrradständern an. Weil heute alle gleichzeitig aushatten, herrschte ein ziemliches Gedränge. Oliver schwang sich gerade auf sein Rad und fuhr davon, anstatt wie sonst auf sie zu warten. Ha! Schlechtes Gewissen, was? Plötzlich wurde sie wütend. Na warte, dich hol ich schon noch ein! Sie zerrte ihr Rad zwischen den anderen heraus und sperrte das Schloss auf. Doch aus der Verfolgung wurde nichts. Ihr Hinterreifen war platt. Nach der Ursache brauchte sie nicht lange zu suchen: An der Seite des Mantels klaffte ein langer Riss. »Verfluchte Kacke!« »Kann ich dir helfen?«, fragte eine Stimme hinter ihr. Es war Alexandra, die gerade ihr Rad vom Ständer hob und sie neugierig ansah. Wo sie war, konnte Paul nicht weit sein, dachte Franziska und ließ ihren Blick rasch über die aus der Tür strömende Schülerschar wandern. Aber sie entdeckte ihn nirgends. »Nein, danke, ich glaube nicht«, antwortete sie. »Der Reifen ist hin.« Alexandra beugte sich über ihren Lenker und besah sich den Schaden. »Echt Scheiße«, bestätigte sie. »Schieb ich halt«, meinte Franziska und Alexandra hob bedauernd die Schultern. Sie war groß für ihr Alter, und obgleich sie nicht dick war, wirkte ihre Figur dennoch plump. Wie ein Sack, kaum Proportionen. Sie hatte die blauen Augen von Paul, aber ihr aschblondes Haar war dünn und glatt und ihre Gesichtszüge wirkten gröber als Pauls, was für ein Mädchen nicht unbedingt von Vorteil war. Aber wenn sie lächelte, so wie jetzt, bekam ihr Gesicht etwas Leuchtendes. Ob Paul seiner Schwester von ihr erzählt hatte? »Trotzdem schöne Ferien«, wünschte ihr Alexandra. »Dir auch«, sagte Franziska und spielte mit dem Gedanken, einen Gruß an Paul hinzuzufügen. Aber in dem Moment sah sie ihn. Er wartete auf der anderen Straßenseite, neben ihm seine Mutter, beide saßen schon mit einer Pobacke auf ihren Sätteln, offensichtlich abfahrbereit. Etliche Eltern, in der Mehrzahl Mütter, waren an diesem letzten Schultag gekommen, um ihre Sprösslinge abzuholen. In vielen Familien war es Tradition, das Zeugnis und
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