Nixenmagier
sich dort sicher fühlen – so sicher, wie sie sich mit Blick auf die Küste nur fühlen können.
»Du meinst also, wir sollten Faro einfach rufen?« Das hört sich alles so vage und irreal an. Unterhalb von Senara, in unserer Bucht, könnte ich leicht die Wasseroberfläche durchdringen und nach Indigo gelangen. Dort waren wir überall von Indigo umgeben – sein Magnetismus hat mich hinabgezogen, selbst wenn ich es nicht wollte. Doch wenn ich mir vorstelle, Faro an einem gewöhnlichen Samstagmorgen zu rufen, am helllichten Tag, als würde ich meinen Hund rufen … Das spöttische Rollen der Brandung und das Schreien der Möwen werden vermutlich die einzige Antwort sein. Ich werde ins Wasser gehen und nichts als die Kälte um die Fußgelenke spüren – wie ein Kind, das zur falschen Jahreszeit baden gehen will.
»Ich glaube, wir haben größere Chancen, wenn wir es bei Dunkelheit von Polquidden aus versuchen«, wende ich ein.
»Das ist zu riskant. Wenn es gar nicht anders geht, dann versuchen wir es im Dunkeln. Doch zuerst probieren wir es anders. Ich würde eher noch nach Senara hinaufgehen, wie du es gemacht hast, als Dad bei Nacht zu suchen. Du musst einfach daran glauben, dass Faro kommen wird, Saph. Damals ist er doch auch gekommen, als du ihn gerufen hast. Irgendwas war damals mit deiner Stimme. Mir ging es so schlecht, dass ich nichts mehr erkennen konnte, aber deine Stimme habe ich die ganze Zeit gehört. Es war so viel Kraft
in ihr. Wenn du ihn mit derselben Stimme rufst, dann wird er auch diesmal erscheinen. Glaub mir, Saph. Du schaffst das. Und denk dran: Dads Schicksal liegt in unserer Hand.«
Nachdem Conor ins Bett gegangen ist, liege ich noch lange wach. Ich sage mir die ganze Zeit, wie müde ich am nächsten Tag sein werde, aber dennoch finde ich keinen Schlaf. Ich wünschte, ich wäre genauso gewiss wie Conor, was Dads Schicksal betrifft. Es hört sich so logisch an. Dad ist gegen seinen Willen in Indigo. Nach Conors Verständnis bedeutet das, dass er wie ein Gefangener auf seine Befreiung hofft.
Wäre ich davon genauso überzeugt wie Conor, würden sich alle Probleme in Luft auflösen. Dann müssten wir nur noch planen, wie wir Dad am besten befreien können. Dann wäre es allen Schwierigkeiten und Gefahren zum Trotz wie eine Reise, deren Ziel man kennt.
Doch ich bin nicht so sicher wie er. Ich habe keine Gewissheit, wo die Reise enden wird. Ich habe Dad mit eigenen Augen gesehen, aber das hat sein Verschwinden nur noch rätselhafter gemacht.
Ich drehe mich auf die Seite und klopfe mein Kissen zurecht. Ich muss ein wenig Schlaf bekommen, aber das wird nicht geschehen, wenn ich ewig weitergrüble. Die Ereignisse, die vor uns liegen, werden meine ganze Kraft erfordern. Hör auf, dir den Kopf zu zerbrechen, Sapphire. Conors Gewissheit reicht für uns beide.
Zehntes Kapitel
B ist du bereit, Saph?«
»Ja.« Ich beiße mir auf die Lippen. Das ist eine Lüge. Ich bin ganz und gar nicht bereit, trage ich doch die schwere Verantwortung für das Leben meines Bruders. Nein, dazu werde ich nie wirklich bereit sein. Hinter uns sind die Felsen. Zwei geschwungene Felsformationen, die uns zu beiden Seiten Sichtschutz gewähren. Vor uns liegt die offene See. Das Wasser ist ruhig heute. Zu ruhig, sagt Conor. Im November kann man der seidigen blauen Oberfläche nicht trauen. Das Barometer fällt, schlechtes Wetter ist im Anzug.
»Wird es einen Sturm geben, Conor?«
»Kann schon sein, jedenfalls wird es kräftig auffrischen.«
»Du meinst, während wir in Indigo sind?«
»Wenn die Zeit in Indigo genauso schnell verginge wie hier, würde ich sagen, dass wir zurück sein sollten, ehe das Wetter umschlägt. Aber du weißt ja, dass es nicht so ist.«
»Ich hoffe wirklich, dass es keinen Sturm gibt.«
Bei stürmischem Wind branden die Wellen über die Felsen hinweg, auf denen wir stehen. Dann kocht und brodelt die See und würde uns gegen die Felsen schleudern, noch ehe wir an Land klettern könnten. Ich suche nervös den Horizont ab. Am blauen Himmel zeigen sich zarte, faserige Cirruswolken. Sie deuten auf einen bevorstehenden Wetterumschwung hin. Conor hat recht.
»Los, Saph. Wahrscheinlich bleibt uns nicht mehr viel Zeit.«
Wir sprechen beide sehr leise, obwohl niemand in der Nähe ist und wir auch nicht gesehen werden können. Doch Indigo hat seine Ohren überall. Eine Möwe, die zu uns herunterstößt, oder eine Robbe, die auf einem Felsen sitzt, könnten die Botschaft übermitteln, dass wir nach
Weitere Kostenlose Bücher