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Nixenmagier

Nixenmagier

Titel: Nixenmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Dunmore
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sein, doch es muss sich um einen der größten handeln. Blauwale gibt es so selten. Wie heißen die anderen, die Dad zufolge in tausend Metern Tiefe leben können? Sie schwimmen nur selten in unsere Gewässer, doch hin und wieder geschieht es. An ihren Namen kann ich mich nicht erinnern.
    Merkwürdigerweise macht mir seine enorme Gestalt keine Angst. Als würde ich in einer fremden Welt einem Freund begegnen. Vielleicht einem entfernten Cousin. Dieser Wal ist ein Warmblüter, ein Wesen, das so atmet wie ich. Ein verwandtes Säugetier.
    Ich hebe meine Hand zum Gruß. Es hört sich verrückt an, doch bin ich so froh, ihn zu treffen, dass ich zu reden anfange
und ihm meinen Namen sage. Ich weiß nicht, ob ich Mer spreche oder nicht, doch bin ich mir sicher, dass meine Worte den Wal erreichen. Eine Art fremde Intelligenz wandert durch mein Bewusstsein und fragt mich, wer ich bin und was ich hier mache. Ich wiederhole meinen Namen: »Ich heiße Sapphire und suche nach meinem Bruder und nach Faro. Eine Strömung hat mich hierhergebracht.«
    Ich spüre, dass ich noch mehr erzählen soll.
    »Ich bin nicht freiwillig hier. Eigentlich ist das viel zu tief für mich. Ich muss nach Indigo zurück, dorthin, wo die Mer leben.«
    Zwischen dem Wal und mir beginnt das Wasser zu wallen. Der Wal lacht. Es ist kein spöttisches Gelächter, sondern klingt eher so, wie auch Mum früher gelacht hat, wenn ich ein Wort falsch ausgesprochen habe. Als ich noch klein war, habe ich zum Beispiel »Umfall« statt »Unfall« gesagt. Bis ich in die Schule kam, wusste ich nicht, dass ich einen Fehler machte. Mum sagte, sie fand das so süß, dass sie gar nicht wollte, dass ich damit aufhöre.
    Das Lachen des Wals verändert seinen Ton. Einzelne Lautgebilde und Silben treten hervor, die das dunkle Wasser mit einer pulsierenden Botschaft erfüllen.
    »Du willst nach Indigo zurück, kleine Krabbe? Aber du bist in Indigo. Wie könnte dies nicht Indigo sein, wenn ich doch hier bin?«
    »Aber ich dachte … die Mer kommen doch nicht hierher, oder?«
    »Indigo ist nicht nur dort, wo sich die Mer aufhalten. Aber was macht ein kleiner Nacktfuß wie du in so großer Tiefe?«
    »Die Strömung hat mich hierhergespült.«
    »Stimmt, das hast du gesagt. Aber die Tiefe lässt kleine
Nacktfüße eigentlich nicht überleben. Wie kommt es also, dass du trotzdem hier bist?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Und wo willst du hin?«
    »Ich will die Tiefe verlassen, doch ich weiß nicht, welches die richtige Richtung ist.«
    »Armer kleiner Nacktfuß. Haben sie dir nicht beigebracht, wo oben und unten ist?«
    Das Gelächter des Wales lässt die Tiefe erbeben.
    »Nichts, was wir gelernt haben, ist hier von Nutzen.«
    »Komm her, kleine Krabbe.«
    Ich zögere. Ein Wal ist schließlich ein Wal. Und es ist durchaus möglich, dass auch Wale eine kollektive Erinnerung haben, obwohl sie keine Fische sind. Vielleicht erinnern sie sich daran, dass Menschen sie mit Harpunen jagten, sie über viele Meilen hinter sich her zogen, während sie aus unzähligen Wunden bluteten, und ihre Kadaver schließlich auseinanderschnitten, um Tran und Walspeck zu gewinnen. Ein Gedanke lässt mir keine Ruhe. Diese Wale – diejenigen, die in großer Tiefe schwimmen können – wurden aus einem ganz bestimmten Grund gejagt. Ich wünschte, ich könnte mich an ihren Namen erinnern.
    »Ich glaube kaum, dass du groß genug bist, um mir etwas anzutun, kleiner Nacktfuß«, dröhnt der Wal.
    Er denkt offenbar, dass ich erst sechs Jahre alt bin. Doch er ist meine einzige Hoffnung, und irgendetwas hat er an sich, dass ich ihm einfach vertrauen muss. Vorsichtig schwimme ich an seine Seite.
    »Komm näher.«
    Sein Körper ist wie ein Fels. Er fühlt sich rau an, wie eine runzelige Orange. Über die Landschaft seiner Haut gleite
ich nach oben, seinem Kopf entgegen. Es ist viel zu dunkel, um sein Auge erkennen zu können, doch er scheint mich zu sehen.
    »Warum schwimmst du so langsam?«, fragt er.
    »Ich komme nicht schneller vorwärts. Meine Arme und Beine fühlen sich so schwer an.«
    »Das hätte deine Mutter dir aber besser beibringen sollen. «
    Jetzt, im Schutze des Wals, fühle ich mich sicherer. Auch er braucht die Luft zum Atmen, wenngleich er lange unter Wasser bleiben kann. Leider kann ich mich nicht daran erinnern, wie lange. Doch irgendwann wird er nach Hause an die Luft wollen und vielleicht wird er mich dorthin mitnehmen.
    »So was von langsam «, grummelt der Wal. »Komm her zu meiner Stirn, kleine

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