Nixenmagier
deine Schwester ebenfalls ein Recht darauf hat, die Wahrheit zu erfahren?«
»Saph braucht sich das nicht anzusehen! Ich … ich werde es ihr erzählen.«
Saldowr schüttelt den Kopf. »So funktioniert das nicht. Sie muss es mit ihren eigenen Augen sehen und mit ihren eigenen Ohren hören.«
Ich betrachte die Falten von Saldowrs Umhang, hinter dem der Spiegel verborgen ist. Ich will ihn sehen, doch habe ich Angst, was er mir zeigen wird. Wenn ich mich nicht selbst davon überzeuge, werde ich mich stets fragen, was er mir enthüllt hätte, wäre ich bloß ein wenig mutiger gewesen. Langsam bewege ich mich nach vorne. Ich bin froh, den Spiegel nicht selbst halten zu müssen, weil meine Hände zittern. Mit ausdrucksloser Miene hebt Saldowr erneut seine Arme, sodass der Umhang zurückgleitet und den Spiegel freigibt. Ruhig hält er ihn mir entgegen. Jetzt habe ich keine Wahl mehr.
Zunächst sehe ich nichts anderes als den trüben Schein der metallenen Oberfläche. Vielleicht wird mir der Spiegel nichts enthüllen. Ich weiß nicht, ob ich enttäuscht oder erleichtert bin. Stumpfes, silberfarbenes Metall. Es ist nicht einmal ein guter Spiegel. Zwecklos, sich davor zu kämmen.
Als hätte der Spiegel meine Gedanken gelesen, verändert er so plötzlich seine Oberfläche, wie ein Gewitter über dem Meer aufzieht. Schatten ballen sich zusammen und treiben über ihn hinweg. Die Schatten von Zweigen sowie ein durchbrochenes Muster aus Rot, Violett und Blau. Dunkelblau, tintenblau – es ist nur der Widerschein von Saldowrs Umhang. Doch unversehens teilen sich die jagenden Schatten, wie ein Theatervorhang, wenn das Stück beginnt. Ja, es ist wie ein Theaterstück. Die Schauspieler sind bereits auf der Bühne und warten auf das Publikum.
Eine Frau sitzt mit dem Rücken zu mir. Es muss eine Mer sein, denn ich erkenne ihre schöne, kraftvolle Schwanzflosse, die, ein wenig gekrümmt, wie die Schwanzflosse eines Seehunds aussieht. Sie beugt sich nach vorne und scheint vollkommen in das versunken, was sie vor sich sieht. Es scheint ihr alles zu bedeuten.
Die lockigen Haare wallen über ihren Rücken. Sie trägt ein fein gewebtes Leibchen. Elvira hatte einmal ein ähnliches Oberteil an. Dann hebt die Frau ihren Kopf, dreht sich langsam um und blickt glücklich lächelnd in den Spiegel. Sie hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Elvira. Beide haben grüne Augen und eine kurze, gerade Nase. Doch ihr Lächeln ist anders.
Das Lächeln der Frau wird noch strahlender, als sie jemand erblickt. Schaut sie mich an? Kann sie mich sehen? Nein, wir haben keinen Blickkontakt miteinander. Sie sieht zu jemand hinüber, der ihr in der Welt des Spiegels entgegenkommt. Während ich sie betrachte, wird mir klar, dass sie viel älter ist als Elvira. Sie ist eine Frau, kein Mädchen. Vielleicht Elviras Tante oder eine ältere Kusine, doch ist sie nicht alt genug, um Elviras Mutter zu sein.
Die Frau bewegt sich ein Stück zur Seite, immer noch lächelnd. Jetzt sehe ich, in welchen Anblick sie versunken war. In einer Wiege, die aus einem glatten Stein gemacht und mit seidigem Seegras ausgekleidet ist, liegt ein Mer-Baby. Es hat die Augen geschlossen und schläft, während sich seine flaumigen Haare in der sanften Strömung des Wassers bewegen. Das Baby ist völlig nackt. Ich vermute, dass es in Indigo nicht notwendig ist, einem Baby warme Kleider anzuziehen. Es hat die Hände um seinen Kopf gelegt. Seine Schwanzflosse ist perlmuttfarben. Vielleicht sind
Mer-Babys wie Robben, und ihre Schwanzflosse wird im Laufe der Zeit dunkler.
Dann hebt die lächelnde Frau ihre Hand zum Gruß. Ihr Gesicht ist voller Liebe und Wärme. Ich wünschte, sie würde mich anlächeln. Wie gerne würde ich in den Spiegel hineinschwimmen, um sie kennenzulernen.
Am Rande des Spiegel sehe ich einen Schatten. Eine Gestalt. Einen Mann. Einen Mer, der seiner Mer-Frau entgegenschwimmt. Auch er hebt seine Hand und winkt. Als er sich in einem Strudel von Blasen umdreht, sehe ich sein Gesicht.
Der Mer schwimmt zu der Wiege und küsst das schlafende Baby auf die Stirn. Sehr sanft, sehr liebevoll. Dad hat uns vor dem Einschlafen immer auf die Stirn geküsst. Mein Herz setzt einen Schlag aus, ehe es gewaltig zu hämmern beginnt, als hätte es einen Stromschlag bekommen. Der Spiegel wird dunkel.
Wir schweigen eine geraume Zeit, Conor und ich, doch drücken wir uns eng aneinander, Schulter an Schulter.
»Eine wahre Antwort kann sehr schmerzlich sein«, sagt Saldowr schließlich. »Es tut
Weitere Kostenlose Bücher