Nixenmagier
Wir haben allen Grund, ihn zu verurteilen. Wir sollten ihn hassen und Mum unterstützen. Aber das kann ich nicht. Denn ich bin nicht in der Lage, eine so scharfe Trennlinie zu ziehen. Gut und schlecht. Schwarz und weiß. Luft und Mer.
Ich gehöre zu beiden Seiten und habe das Gefühl, auf einer Eisscholle zu stehen, die mitten entzweibricht. Einen Fuß auf der rechten und einen auf der linken Seite. Ich muss mich entscheiden: Entweder bringe ich mich mit einem entschlossenen Sprung in Sicherheit oder ich werde
ins eisige Wasser fallen. Aber ich kann mich nicht entscheiden. Vielleicht bin ich auch ein Betrüger, so wie Dad.
»Kopf hoch, Saph!«, sagt Conor unvermutet. »Die Welt wird schon nicht untergehen.«
»Was?«
»Wir lassen uns unser Leben nicht kaputt machen. Ich sag dir, was ich jetzt tun werde. Ich werde nach Hause gehen, mich um Mum kümmern und darauf achten, dass Roger sie gut behandelt. Aber ich habe da keine Bedenken. Eigentlich ist er doch ein guter Kerl. Und ich sage dir noch was, Saph: Ich werde nie wieder hierher zurückkehren, nach Indigo .« Er spuckt das Wort förmlich aus, voller Abscheu. »Sie haben uns immer nur angelogen. Ich dachte, Elvira wäre meine Freundin, dabei wusste sie die ganze Zeit …«
Ich nicke, als würde ich ihm zustimmen, doch im Grunde bin ich mir nicht so sicher. Das kleine Mer-Baby ist mein Bruder. Okay, mein Halbbruder, aber trotzdem mein Bruder. Mein Bruder in Indigo. Hier sind Faro und Saldowr und der Wal und die Delfine und alle anderen, denen ich in Indigo begegnet bin. Auch Elvira. Aber jetzt ist nicht der richtige Augenblick, um Conor meine Gefühle zu erklären.
»Elvira mag dich wirklich«, sage ich.
»Dann hat sie aber eine merkwürdige Art, es zu zeigen.«
»Sie tut es trotzdem.«
Dann reden wir nicht mehr miteinander. Wir wissen, dass Saldowr bald zurückkommen wird, und in gewisser Weise sind wir froh, von dem abgelenkt zu werden, was uns der Spiegel gezeigt hat. Eine Sache von größter Dringlichkeit. Saldowr ist keine Person, an deren Worten man zweifelt. Es
ist eine Kraft in ihm, die unsichtbar und doch sehr real ist, wie Elektrizität. Als er uns entgegenschwimmt, blicken wir ihn beide aufmerksam an.
»Eine wahre Antwort kann sehr schmerzlich sein«, wiederholt er, als er uns erreicht, »doch sehe ich, dass eure Herzen stark genug sind, um geheilt zu werden.«
»Falls wir das wollen«, gibt Conor zurück.
»Ganz recht. Niemand wird euch gegen euren Willen heilen wollen. Doch müssen wir dies nun beiseite lassen und uns dem zuwenden, was ich vorhin angedeutet habe. Habt ihr die Veränderung der Gezeiten noch gar nicht bemerkt? «
»Der Gezeiten?« Der Themenwechsel ist so überraschend, dass wir ihn bloß fragend anstarren.
»Ja, sie haben sich verändert. Ihr seid doch Wesen der Luft und der Erde. Ihr beobachtet den Verlauf der Gezeiten an euren Küsten. Messt ihr nicht ihre Höhe und legt Gezeitenkalender an?«
»Doch … ich glaub schon«, antworte ich verwirrt. »Ich meine, ich tue das nicht selbst …«
»Reden Sie davon, wie schnell die Flut kam, als der Delfin gestrandet war?«, fragt Conor. »Niemand hat das Wasser je so schnell steigen sehen.«
Saldowr nickt. »Auch davon rede ich. Ihr habt euch damals um Indigo verdient gemacht, und das wird nicht vergessen werden. Aber die Veränderung der Gezeiten hat eine tiefere Ursache. Wir fürchten, dass die Gezeiten sich verselbstständigen könnten. Sie versuchen, den Knoten zu lösen, der sie zusammenhält.
Wir fürchten uns vor den Folgen, das heißt, die Klugen unter uns tun das. Doch auch in Indigo gibt es genug Hitzköpfe,
die solche Veränderungen begrüßen. Sie jubeln, wenn sie das Gerücht hören, der Gezeitenknoten würde sich auflösen. Indigo werde davon profitieren, sagen sie. Denn mit den Gezeiten werde auch Indigos Macht anschwellen und eine nie gekannte Größe erreichen. Mit Freuden würden sie eure Welt in den Fluten versinken sehen – dort, wo unsere Grenzen aufeinanderprallen. Doch sie verkennen Folgendes: Sobald eine Seite aus dem Gleichgewicht gerät, wird auch die andere aus dem Gleichgewicht geraten. Und ist das Gleichgewicht erst einmal gestört, so wird, wie ich fürchte, schreckliche Gewalt entfesselt. Vielleicht werdet ihr jetzt sagen, je größer die Weisheit, desto größer auch die Befürchtungen«, fährt Saldowr ironisch fort, »denn seit ich den Gezeitenknoten beobachte, sind meine Sorgen stets größer geworden.«
»Was ist der
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