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Nixenmagier

Nixenmagier

Titel: Nixenmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Dunmore
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er beinahe gestorben wäre. Er muss seitdem oft daran gedacht haben. An den Moment, als er mit geschundenem Körper zu sich kam und keine Ahnung hatte, wie das geschehen war. Tief in seinem Unterbewusstsein hat er vielleicht die Erinnerung daran gespeichert, dass er sich nach Indigo verirrt hatte und fast von den Wächterrobben getötet
worden wäre. Gewisse Albträume bleiben einem manchmal erhalten.
    Roger starrt mich grübelnd an und weiß nicht, was er von all dem halten soll. »Kann ich dir wirklich glauben?«, fragt er langsam.
    »Du musst! Bitte! Auch wenn du es noch so unwahrscheinlich findest, du musst mir glauben!«
    Die Zeit steht still – wie die Nahaufnahme in einem Film, die kein Ende nimmt. Es gibt weder Indigozeit noch Menschenzeit, nur diesen Moment, in dem Roger sich entscheiden muss, ob er sich auf etwas ganz und gar Unglaubwürdiges einlassen soll oder nicht. Seine Stirn liegt in tiefen Falten. Sein Blick ist scharf, suchend. Er wägt das Für und Wider ab. Auf der einen Seite liegen Normalität, Realität und Vernunft, all die Dinge, auf die sich Rogers Leben gründet. Dem gegenüber befindet sich das Unerklärliche, alles, was nicht zusammenpasst und keinen Sinn ergibt.
    In diesem Moment wird die Haustür von einem krachenden Windstoß erschüttert. Das Brüllen des Meeres ist mit einem Mal so laut, als hätte jemand, der wilde Musik liebt, die Anlage voll aufgedreht. Oben beginnt Sadie panisch und ohrenbetäubend zu kläffen, worauf in den umliegenden Häusern ein ganzer Hundechor antwortet. Sie alle bellen wie rasend gegen den Wind an, als wittere jeder Hund in St. Pirans die nahende Gefahr.
    »Hunde haben einen sechsten Sinn«, murmelt Roger wie in Trance. »Ich weiß noch, wie Rufie …«
    Er hält inne. Indem das Bellen der Hunde zu einem Crescendo anschwillt, wird die Spannung unerträglich. Ich kann weder sprechen noch mich bewegen. Das Pochen meines Herzens ist noch lauter als das Pochen der Wörter
in meinem Kopf: Er muss uns glauben. Er muss uns glauben. Er muss uns glauben. Dann springt Roger so entschlossen auf, dass es mir den Atem verschlägt.
    »Okay, los geht’s! Sapphy, nach oben! Weck deine Mutter, hilf ihr sich anzuziehen, pack sie in die Bettdecke ein. Ich bin mit dem Auto zurück, so schnell ich kann. Conor, wir nehmen uns systematisch jedes Haus vor. Das ist eine offizielle Katastrophenwarnung! Eine Flutwelle steht unmittelbar bevor! Das ist alles, was du sagst. Bleib nicht stehen, und beantworte keine Fragen, lauf gleich zum nächsten Haus. Hämmer gegen die Tür, rufe es laut! Sag allen, sie sollen auch ihre Nachbarn informieren. Jeder ist angewiesen, Schutz auf den Hügeln zu suchen. Wer krank oder ans Haus gebunden ist, soll sich ins Obergeschoss begeben und dort auf Hilfe warten. Lass dich auf keine Diskussionen ein. Wenn sich einer bewegt, werden sich alle bewegen. Ich alarmiere die Küstenwache und den Seerettungsdienst. Und Gott schütze uns alle, wenn ihr Unrecht habt.«

    Minuten später sind Conor und Roger aus dem Haus. Ich stehe auf der Schwelle, drücke die Tür gegen den Wind und spähe die Straße entlang. Schatten springen und tanzen, es gießt in Strömen. Da drüben ist Roger und hämmert gegen die Haustür der Trevails. Nach ein paar Sekunden geht im ersten Stock das Licht an. Die Trevails sind alt. Um neun Uhr gehen sie in der Regel ins Bett. Sie werden sicher völlig verängstigt sein. Das Fenster im Obergeschoss öffnet sich, dann höre ich Rogers Stimme: »Katastrophenwarnung! Eine Flutwelle! Alle müssen evakuiert werden!«
    Darauf die brüchige Stimme von Mrs Trevail: »Was sagen Sie da, junger Mann?«

    Ich knalle die Tür zu. Mum braucht Hilfe. Doch als ich die Treppe hinaufrenne, stößt Sadie einen so kläglichen, herzzerreißenden Laut aus, dass ich zuerst zu ihr gehe. Ich öffne die Tür zu meinem Zimmer. Sadie steht direkt dahinter, am ganzen Körper zitternd, das Fell gesträubt, so wie Mum vorhin erzählt hat.
    Wir haben allen Grund, die Stadt zu alarmieren. Hätte ich noch irgendwelche Zweifel, sie würden beim Anblick von Sadie verfliegen. Sie winselt eindringlich und starrt mich an. Sie ist so verzweifelt darauf bedacht, mich zu warnen, dass sie mit den Zähnen meinen Ärmel packt und mich hinausziehen will.
    »Ich weiß, Sadie. Die Welle kommt, nicht wahr? Aber jetzt müssen wir erst mal Mum helfen.«
    Sadie klebt wie ein Schatten an mir, als wir in Mums Zimmer gehen. Sie schläft immer noch tief und fest und nimmt nichts von dem

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