Nixenmagier
wenig näher an die Kante heranrobbe, kann ich nach unten blicken. Wenn Dad irgendwo eine Chance hat, dann hier. Doch ich darf mich nicht zu weit vorwagen.
»Sapphy …«
Die Stimme dringt kaum hörbar durch den Sturm. Doch sie kommt von unten, aus dem Wasser. Ich forme meine Hände zu einem Trichter und schreie so laut ich kann: »Daaaaad! Hier bin ich!«
Als ich den Kopf hebe, sehe ich ihn für einen kurzen Moment. Er schwimmt in der Bahn, die der Mond durch das brodelnde Wasser zieht, und kämpft mit aller Kraft gegen den Sog der Flut an, die ihn dem Felsen entgegentreibt. Er kommt dem Ufer zu nah …
»Dad!«
Er dreht mir seinen Kopf zu. Sein Gesicht und seine Haare glitzern im Mondlicht, bevor eine Welle über ihm zusammenschlägt. Als er wieder auftaucht, ist er den Felsen noch näher gekommen. Er hält inne und hebt die Hände zum Mund, formt sie zu einem Trichter, wie ich es getan habe.
»Der Gezeitenknoten hat sich gelöst! Lauf und sag ihnen, dass sich der Gezeitenknoten gelöst hat! Bringt euch in Sicherheit! Ihr müsst höher hinauf! Hörst du mich?«
Die Strömung treibt ihn auf die Felsen zu. Er muss weiter hinausschwimmen. Auf den Knien richte ich mich auf. Der Wind füllt meinen Mund, sodass ich kaum atmen kann. So laut ich kann brülle ich ihm entgegen: »Ja, ich höre dich!«
Er hebt die Hand, zum Zeichen, dass er mich verstanden hat. Doch er muss sich in Sicherheit bringen, muss sich von den Felsen entfernen. Ist ihm das nicht klar?
»Schwimm, Dad, schwimm! Dasist zu gefährlich! Schwimm raus!«
Der Mond verschwindet wieder hinter den Wolken und das Wasser ist schwarz wie Tinte. Für den Bruchteil einer Sekunde, bevor es ganz dunkel wurde, meine ich gesehen zu haben, wie er ins Wasser eintauchte. Er hechtete in die Wellen hinein und versuchte mit aller Kraft, sich vom Ufer zu entfernen. Doch sicher bin ich mir nicht.
Fünfzehntes Kapitel
C onor! Oh, Con, ich bin so froh, dass du wieder da bist!« Ich werfe die Haustür hinter mir zu, ziehe Stiefel und Regenjacke aus. Conor kniet vor dem Feuer und wärmt sich auf.
»Hätte mir ja denken können, dass du dein Wort nicht hältst«, sagt Conor mit schneidender Stimme, ohne sich umzudrehen.
»Was?«
»Du hattest versprochen, hierzubleiben, weißt du das nicht mehr? Damit Mum sich keine Sorgen macht!«
»Ach … das hab ich wirklich … total vergessen.«
»Wer’s glaubt.«
»Jetzt hör schon auf, Con. Ich muss dir was Wichtiges erzählen: Ich hab Dad gesehen!«
Jetzt dreht er sich um, die Augen weit aufgerissen. »Dad? Was soll das heißen, du hast ihn gesehen? Er ist nicht hier. Wir wissen, wo er ist.«
»Jetzt hör zu!«
»Pst, sei leise! Sie wachen auf, wenn wir nicht aufpassen. Mum redet im Schlaf, sie hat wirres Zeug gefaselt, als ich gerade oben war.«
»Was für wirres Zeug?«
»Ach, ich hab’s nicht genau verstanden«, antwortet er nach einer Pause, die mir zeigt, dass er sehr wohl etwas verstanden hat. Er sieht angespannt und unglücklich aus, und
ich spüre einen Anflug von schlechtem Gewissen, dass erneut ich es war, die Dad gesehen hat. Aber ich muss ihm erzählen, was Dad gesagt hat.
Conor hört mir aufmerksam zu, ohne mich zu unterbrechen. Er zeigt weder Angst noch Erstaunen noch irgendwelche anderen Gefühle. Sein Gesicht ist blass unter der üblichen Bräune. Nachdem ich fertig bin, sitzen wir beide schweigend da.
»Glaubst du mir nicht, Conor?«
»Warte kurz, Saph. Lass mich nachdenken.«
Ich warte gespannt. Ich habe solche Angst, dass Conor mir nicht glaubt. Dass er denkt, ich hätte mir alles nur eingebildet, weil ich mich nach Dad sehne.
»Conor …«
»Das Problem ist, Saph, dass wir nicht einfach in der Gegend rumrennen und an alle Türen klopfen können, um den Leuten zu erzählen, wir hätten eine Nachricht von unserem Vater erhalten, der gar nicht ertrunken ist, sondern inzwischen im Meer lebt. Wenn wir ihnen dann noch sagen, dass eine Flutwelle auf St. Pirans zurollt, weil es sich an der Grenze zu Indigo befindet, werden sie uns für verrückt halten.«
»Aber du glaubst mir doch.«
»Ja, aber vielleicht nur deshalb, weil ich genauso verrückt bin wie du.«
»Irgendwas müssen wir doch unternehmen!«
»Natürlich. Hör zu, Saph, ich werde jetzt Roger aufwecken. «
»Roger?«
»Reg dich ab! Vielleicht gelingt es uns, ihn zu überzeugen, und wenn er die Leute warnt, wird ihm jeder Glauben schenken. Die Leute respektieren ihn.«
»Aber das dauert doch alles viel zu lange. Was meinst du, wie
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