Nixenmagier
lange wir allein brauchen werden, um Roger zu überzeugen. Nein, Con, wir müssen sofort etwas unternehmen. Dad hat gesagt, der Gezeitenknoten hätte sich schon gelöst. «
»Aber Dad ist nicht da. Also müssen wir auf Roger setzen. «
Ich folge Conor die Stufen hinauf und versuche ihn verzweifelt davon abzubringen, Roger zu wecken. Doch ich kann nur flüstern, wegen Mum. Das macht alles noch irrealer, als wenn man in einem Albtraum zu schreien versucht.
Roger ist sofort wach, und zu meiner Verwunderung begreift er nicht nur, dass Conor ihm etwas Wichtiges zu erzählen hat, sondern auch, dass wir versuchen, Mum nicht aufzuwecken. »Hat sich ihr Zustand verschlechtert?«, flüstert er.
»Nein, es geht nicht um sie.«
Roger hat ein wenig Mühe, sich aus dem Korbstuhl hochzustemmen, der Rest der Zeitung fällt dabei zu Boden. Doch ist er gleich beeindruckend präsent und bereit, das Kommando zu übernehmen. Vermutlich ist er als Tauchlehrer darauf trainiert, mit Notfällen umzugehen.
Sobald wir unten im Wohnzimmer sind, platzt Conor heraus: »Wir müssen dir etwas Wichtiges erzählen. Es hört sich wahrscheinlich völlig verrückt an, und vielleicht wirst du uns nicht glauben, aber hör bitte bis zu Ende zu, ohne mich zu unterbrechen.«
Conor erwähnt Dad mit keiner Silbe. Er sagt nur, wir wären ganz sicher, dass eine große Flutwelle auf St. Pirans zurolle. Der Sturm kündige sie an. Er könne Roger nicht sagen,
woher wir das wüssten, aber er sei vollkommen sicher. Wir müssten rasch alle Leute in der Umgebung wecken und warnen, damit sie noch rechtzeitig die Hügel hinaufkämen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Die Worte klingen so schwach, so ärmlich. Es wird eine Flutwelle geben. Wer wird schon zwei Kindern Glauben schenken, die alle auffordern, die Häuser zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen? Die Leute werden lachend sagen: Ist ja interessant, aber ich bleibe doch lieber im Bett, wenn ihr erlaubt.
Doch Conor ist überzeugend. Ernst und mit großer Intensität redet er auf Roger ein. Seine Augen funkeln entschlossen. Roger lässt den Blick zwischen uns hin und her wandern. Sein Gesicht ist hochkonzentriert und zusammengezogen, sodass man glauben könnte, er sei zornig, aber das ist er nicht. Plötzlich zeigt er auf mich, weil ihm plötzlich etwas durch den Kopf zu gehen scheint. »Du weißt doch immer genau, wann die Gezeiten sich umkehren, Sapphy.«
Daran kann sich Roger also erinnern. Ich habe einmal solch eine Bemerkung gemacht, als wir noch in unserem alten Haus gewohnt haben. Ich sagte, ich würde spüren, wenn die Gezeiten sich umkehren. Daraufhin hat mich Roger auf die Probe gestellt, weil die Gezeiten für ihn als Taucher von lebenswichtiger Bedeutung sind.
»Ja«, sage ich. »Und was hältst du davon, was Conor sagt? Kannst du spüren, dass eine Flutwelle heranrollt?«
»Ja«, antworte ich. Eigentlich will ich dem nicht viel hinzufügen, doch ehe ich mich besinne, sind die Worte bereits heraus: »Das liegt am Gezeitenknoten. Er hat sich gelöst.«
»Gezeitenknoten? Was soll das sein, Sapphire? Willst du
mir jetzt irgendein Märchen erzählen? Es geht hier um viele Menschenleben.«
Verzweifelt gehe ich ein noch größeres Risiko ein. »Roger …«, beginne ich und hoffe inständig, dass er den Ernst und die Wahrheit in meinem Gesicht erkennt. »Du weißt doch, dass manchmal etwas geschieht, wofür man keine Erklärung hat. Ein-, zweimal im Leben kommt so etwas vielleicht vor. Wie man die Dinge auch dreht und wendet, irgendwie passen sie nicht zusammen … wie damals, als du den Tauchunfall hattest und dir später nicht erklären konntest, wie wir so weit hatten rausschwimmen können, um dich zu retten. Theoretisch war das unmöglich. Und jetzt ist es auch so, Roger! Erinnerst du dich noch daran, wie du einmal über den Bootsrand geschaut und ein Mädchen unter Wasser gesehen hast, das so aussah wie ich?«
Roger zuckt heftig zusammen. »Woher weißt du…?«
»Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Außerdem würdest du mir doch nicht glauben. Aber es ist wahr. Genauso wahr wie die Tatsache, dass eine Flutwelle auf uns zukommt.«
Ich sehe ihm an, dass er sich an alles erinnert. An damals, als ich in der Sonne unter der Wasseroberfläche trieb und ihn anschaute. Als ich in Indigo und er in seinem Boot war. Ich erinnere mich, wie ich von unten sein ungläubiges Gesicht sah. Roger wird diesen Augenblick niemals vergessen, genauso wenig wie die Ereignisse des letzten Sommers, als
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