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Nixenmagier

Nixenmagier

Titel: Nixenmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Dunmore
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rauslehne, kann ich direkt auf die Straße sehen.«
    Das Fenster schwingt auf und sofort wird das Zimmer vom Geruch des Meeres erfüllt. Mit dem Geruch kommen Geräusche, die mich erschaudern lassen. Das Donnern des Meeres muss schon die ganze Zeit da gewesen sein, doch erst jetzt – ohne vom Fenster, der Jalousie und dem Vorhang gedämpft zu werden – hört es sich erschreckend nah an. Alle Geräusche dringen mit voller Lautstärke auf uns ein: Rufe und Sirenen, schreiende Möwen am schwarzen Himmel, ein Wirrwarr sich überschlagender Stimmen im Dunkeln sowie das blindwütige Bellen der Hunde, das die gesamte Stadt erfüllt.
    »Halt mich an den Hüften fest, Rainbow, dann kann ich mich rauslehnen und vielleicht mehr erkennen. Könnte ja sein, dass ein Boot kommt.«
    Fernsehbilder von Rettungsbooten gehen mir durch den Kopf, die Straßen entlangschippern und Menschen aus den oberen Etagen überfluteter Häuser retten. Ein Rettungsboot
müsste doch inzwischen unterwegs sein. »Hast du die Signalrakete gehört, Rainbow?«
    »Nein. Meinst du, die Männer sind rechtzeitig zur Rettungsstation gelangt? Das Wasser kam doch so schnell.« Rainbows Stimme klingt jetzt gefasster. Sie ist so tapfer, hält ihre Angst im Zaum. Ich habe es da leichter, weil ich nicht Rainbows und Mums Furcht vor dem Meer teile.
    »Halt mich gut fest, Rainbow!«
    Ich lehne mich so weit wie möglich aus dem Fenster und suche die Straße nach einem Lebenszeichen ab. Am Ende der Straße flackert ein Licht auf. Seltsamerweise hat sich der Wind vollkommen gelegt, als hätten die entfesselten Gezeiten ihm den Garaus gemacht. Aber das Wasser steigt immer noch. Seine Oberfläche hat sich beruhigt, doch liegt ein tödlicher Ernst über der gurgelnden See und ihrem pulsierenden, langsam steigenden Pegel. Niemand scheint sie aufhalten zu können.
    Bei den Nachbarn brennt Licht. Ich beuge mich noch etwas weiter vor. Sie haben ebenfalls ein Fenster geöffnet. Der alte Mr Trevail schaut heraus. Seine Gesichtszüge sind im Mondlicht klar zu erkennen. Er sieht nicht entsetzt aus, sondern wie ein Matrose auf See, der einen aufziehenden Sturm erwartet.
    »Mr Trevail!«
    Er dreht sich zu mir. »Alles in Ordnung bei euch?«, ruft er herüber.
    »Ja, alles in Ordnung. Wie geht es Ihrer Frau?«
    »Die ist auf dem Dachboden. Das Wasser scheint schnell zu steigen. Ihr solltet auch weiter nach oben. Wird schon irgendwann ein Rettungsboot kommen, mach dir keine Sorgen, mein Kind. Haltet das Pulver trocken.«

    Das Pulver trocken halten? Was meint er damit? Mr Trevail hebt die Hand zum Gruß und ist wieder verschwunden. Besonders besorgt schien er nicht zu sein.
    Doch wie sollen wir weiter nach oben kommen? Wir haben keinen Dachboden. Ich besinne mich einen Moment, dann forme ich meine Hände zu einem Trichter und rufe so laut ich kann: »Hilfe! Wir brauchen Hilfe!«
    Ein weiterer Wasserschwall wogt heran und führt einen massiven, dunklen Gegenstand mit sich, den ich nicht identifizieren kann. Das Haus erbebt unter dem Druck der anschwellenden Wassermassen. Wird es ihm standhalten?
    »Hilfe!«, rufe ich erneut, doch die Nacht verschluckt meine Stimme und niemand antwortet.
    »Da ist niemand«, stellt Rainbow fest. Sie sagt nicht: Wir müssen uns selber helfen , aber ich weiß, dass sie genau das meint. »Komm wieder rein, Sapphire.« Sie zieht mich ins Zimmer zurück.
    »Kerzen!«, sagt Mum. Sie kämpft sich aus dem Bett.
    »Mum, sei vorsichtig.«
    Als sie zu ihrer Kommode wankt, fällt mir ein, dass Mum stets Duftkerzen in ihrem Schlafzimmer aufbewahrt. »Ich hab eine«, murmelt sie. Wenige Sekunden später flammt ein Streichholz auf. »Gott sei Dank ist es eine neue Kerze«, sagt Mum. »Die wird für mehrere Stunden reichen.«

    Bis heute habe ich nicht gewusst, wie tröstlich das Licht einer einzigen brennenden Kerze sein kann. Sie flackert auf und brennt dann mit beständiger, heller Flamme. Mum sitzt auf der Bettkante und stützt den Kopf in die Hände. Die Kerze beginnt einen schwachen Geruch nach Vanille zu verströmen.

    Ein seltsamer Moment – wie eine Insel des Friedens inmitten des Krieges. Selbst Sadie hat sich beruhigt und drückt sich an mich. Rainbow legt Mum den Arm um die Schultern. »Geht’s Ihnen schon etwas besser, Mrs Trewhella?«
    »Bin noch ein bisschen schwach auf den Beinen«, antwortet Mum leise. »Wird schon gehen.«
    Sadie schnüffelt in meiner Hand und beobachtet die Flamme, die sich in ihren Augen spiegelt.
    »Conor!«, sagt Mum plötzlich,

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