Nixenmagier
als hätte sie jetzt erst bemerkt, dass er nicht da ist. »Wo ist er? Geht’s ihm gut?«
»Er ist bei Roger, Mum, alles in Ordnung. Bei Roger kann ihm nichts passieren.«
»Ich hab immer gewusst, dass einmal so etwas passieren wird«, fährt Mum fort, als spräche sie zu sich selbst. Ich weiß, woran sie denkt: an die Wahrsagerin. Jene Wahrsagerin, die ihr vor vielen Jahren prophezeite, dass der Mann, der sie liebe, sie einst durch das Wasser verlieren würde. Seitdem hat die Angst vor dem Meer ihr das Leben vergällt. Und nun glaubt sie, die Prophezeiung würde sich erfüllen.
Hüte dich vor dem Meer. Das Meer ist die größte Gefahr für dich.
Ich denke an den Brandy. Wo hat ihn Rainbow nur hingestellt? Ach ja, auf den Boden. Zum Glück habe ich das Glas nicht umgeworfen. Ich halte es Mum entgegen. Sie scheint zu überlegen und nimmt dann einen Schluck, was einen gewaltigen Hustenanfall zur Folge hat.
»Geht’s wieder, Mum?«, frage ich kurz darauf.
»Ist schon … okay«, keucht sie.
»Vielleicht sollten wir alle einen Schluck nehmen«, sagt Rainbow.
»Kommt überhaupt nicht in Frage!«, entgegnet Mum mit fester Stimme.
Ich gehe erneut zum Fenster und werfe einen gründlichen Blick zur gegenüberliegenden Haustür. Ja, das Wasser steigt langsam, doch unerbittlich weiter.
»Wir müssen höher hinauf.«
»Wie denn?«, fragt Rainbow.
»Ich weiß nicht. Ich muss nachdenken … Haben wir eigentlich einen Dachboden?«
»Ja«, sagt Mum. »Die Falltür ist im Badezimmer.«
»Und wo ist die Leiter?«
»Im Schrank unter der Treppe.« Mum hört sich schon besser an. »Wenn du nach unten gehst, Sapphy, dann bring mir doch bitte mein Handy mit. Es liegt auf dem kleinen Tisch neben dem Kamin.«
»Oh.«
Rainbow und ich tauschen Blicke. Offenbar ist Mum nicht bewusst, wie hoch das Wasser bereits gestiegen ist. »Ich schau mal nach, wie’s unten aussieht«, flüstere ich.
»Ich komm mit.«
»Vielleicht steht das Wasser ja noch gar nicht so hoch. Bleib hier, Sadie! Bleib bei Mum!«
Sadie will auch gar nicht mitkommen. Sie weiß, dass unten Wasser ist, und hat Angst. Doch gleichzeitig will sie unbedingt bei mir bleiben. Sie ist so anhänglich, aber dafür ist jetzt nicht der richtige Moment. »Nein, Sadie! Pass auf Mum auf!«
Schließlich gehorcht sie. Wir schließen die Schlafzimmertür hinter uns. Ich trage die Kerze vor mir her, während wir den Flur entlanggehen und die Treppe hinunterschauen.
Unten hat sich eine dunkle, ölige Wasserfläche gebildet. Doch die Haustür ist immer noch geschlossen. Das Wasser muss unter ihr hindurchgedrungen sein. Schwer zu sagen, wie tief es ist.
»Zähl mal, wie viele Stufen noch zu sehen sind«, sagt Rainbow.
»Acht Stufen sind noch da.«
»Wie viele sind es insgesamt?«
»Ich weiß nicht, zwölf oder dreizehn.«
Gegenstände treiben im Wasser: ein Buch, eine Orange, die Kochlöffel, die eigentlich in einem Behälter auf der Arbeitsplatte stehen. Während wir hinunterstarren, nimmt das schwappende Wasser die nächste Stufe in Besitz.
»Sie werden uns retten«, sagt Rainbow, doch ihre Stimme zittert. »Wir müssen die Ruhe bewahren und abwarten.«
»Hm, ich weiß nicht…« Ich würde Rainbow zwar gern beruhigen, doch gibt es keinen Grund, ihr etwas vorzumachen. »Wenn alle Häuser unter Wasser stehen, ich meine, alle Häuser in dieser Reihe, dann betrifft das viele alte Leute, wie die Trevails. Die müssen zuerst gerettet werden. Da kann es doch ewig dauern, bis auch zu uns ein Boot kommt.«
Rainbow zittert. Erneut wird mir bewusst, wie unglaublich mutig sie ist. Sie beherrscht ihre Angst und überlegt nüchtern, was zu tun ist.
»Was meinst du, wie tief es ist?«, frage ich.
»Keine Ahnung. Aber du darfst nicht nach unten gehen, Sapphire. Sonst kommst du vielleicht nicht wieder raus.«
»Ohne Leiter kommen wir aber nicht auf den Dachboden. «
»Und wenn wir auf einen Stuhl steigen? Wir schieben
eine von uns hinauf, und diejenige, die oben ist, zieht dann die anderen …«
»Das schafft Mum nicht, sie ist krank, Rainbow. Ich geh jetzt runter und hol die Leiter. Halt die Kerze hoch.«
»Nein, Sapphire, bitte …«
»Ich muss.«
Ich ziehe Jeans und Oberteil aus und werfe sie auf den Boden. Das Wasser gurgelt unheilvoll zu meinen Füßen. Schwarzes, unheimliches Wasser. Nicht Indigo, sondern etwas ganz anderes. Ich hole tief Luft und gehe ein Stück ins Wasser hinein. Es ist sehr kalt. Ich möchte die Augen schließen, um nicht zu sehen, was im Wasser auf
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