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klösterlicher Abgeschiedenheit, sondern praller profaner Lebenslust. Schlag nach bei Malet.
Wer heute an der fast dörflich anmutenden Kirche von St. Germain in den Untergrund hinabsteigt, stößt auf ein Gruppenbild mit Dame. Léon Binet hat auf großflächiger Leinwand in kräftigem Blauton all die Größen des Viertels aufgereiht. Boris Vian und Jacques Prévert, Jean Genet und Jean Paul Sartre, Paul Boubal, den Inhaber des Café Flore, und natürlich die schwarzmähnige Juliette Gréco, die Königin des Kult-Kellers ,Tabou’.
Es ist wie ein Klassenfoto, so wie es an Abiturientagen gemacht wird. Alle schauen ein wenig maskenhaft drein, wie Marionetten, die man, aus einer Kiste herausgeholt, willkürlich nebeneinanderstellt.
Das war St. Germain von gestern. Boris Vian ist früh schon gestorben, auch Prevert lebt nicht mehr und Sartre liegt seit sechs Jahren auf dem Friedhof von Montparnasse, zwanzig Fußminuten von St. Germain entfernt. Vor einem Jahr hat man seine Lebensgefährtin Simone de Beauvoir neben ihm bestattet und am gleichen Tag, da die Beauvoir, die bei Binets Prominenten-Parade fehlt, von den noch druckfrischen Zeitungen in großen Lettern abgefeiert wird, da stirbt — abermals nur ein paar hundert Meter weiter — der Exzentriker Jean Genet in einem abgeschiedenen Hotel des 13. Arrondissements einen stillen und kaum bemerkten Tod.
Nur die Gréco ist geblieben. Schon 1954 schrieb Walter Mehring, der „die Pariser Cafés zur Kunstgeschichte der Neuzeit“ zählte: „Die Epoche der Künstlerstammtische ist vorbei.“ Es war eine kurze und lebhafte Zeit. Aber dann (so Mehring) wurde das Café Flore, „das Mekka des Existenzialismus, von den Nichtsgläubigen und auf alles Neugierigen aus aller Weit in solchen Scharen überlaufen, daß der Prophet des Einzig-Wahren Ich-Selbst, Jean Paul Sartre, keinen Platz mehr für sich selber frei fand und seiner Lehre gemäß, sich nur durch sein Nicht-Dasein manifestierte. Er verlegte seinen Apéritif ins Café Procope.“
Das Procope rühmt sich noch heute, das älteste erhaltene Café der Welt zu sein, 1689 gegründet von einem Sizilianer, auf das Jahr genau hundert Jahre vor der Revolution, die wiederum die seit einem Jahrtausend bestehende Benediktiner-Abtei von St. Germain geschlossen und bei der Gelegenheit 318 Geistliche ermordet hatte. Die Königsgräber wurden geplündert, die Kirche wurde zum Teil abgetragen und in ihren Mauern eine Salpeterfabrik eingerichtet. Heute ist die Kirche wieder Kirche, das Procope ist immer noch das Procope, was den Rückschluß zuläßt, daß Cafés flexibler auf Revolutionen reagieren, und auch das Flore steht noch. Das Tabou in dem die Gréco ihren Weltruf gründete, ist zu einer zweitklassigen Diskothek verkommen.
Es war ein biederes Bistro, kurz nach dem Krieg, als sich Jazz-Musiker dort einnisteten und Be-Pop spielten, den die Amerikaner mitgebracht hatten, Boogie-Woogie auch und Jitterbug. Dann erst kamen die Dichter-Lesungen und die Chansons. Und mitten unter der St. Germain-Schickeria ein dralles Mädchen mit Namen Toutoune, die sich später Juliette Gréco nannte. Nicht nur Sartre und Camus zählten zu den Stammgästen, auch Orson Welles und die Garbo und natürlich die Dietrich. Marlene, die von Paris nicht mehr ließ und die heute auf der noblen Avenue Montaigne eine Wohnung bezogen hat, die sie seit Jahren nicht mehr verläßt. Notizen von gestern. Das Tabou hat ausgedient.
Und Burma, unser Freund Nestor? Der mag das wohl alles im Sinn gehabt haben bei seinen Streifzügen durch die Nächte von St. Germain. Nirgendwo sonst treibt es ihn bei seinen Nachforschungen so häufig in Bars und Cafés wie hier im sechsten Arrondissement. Ins Flore, ins Deux Magots oder ins ,L’Echaudé’ in der gleichnamigen Straße.
Vieles läßt sich wiederfinden. Selbst das Hotel, in das sich Burma (gewohnt keusch) mit dem „kleinen dunkelhaarigen Struwwelpeter“ Marcelle zurückzieht, um dort die Leiche von Charlie Mac Gee zu entdecken. Es heißt zwar nicht Diderot-Hôtel, aber es steht tatsächlich „hinter der Statue des Enzyklopädisten“. Das St. Germain-Viertel läßt sich leicht durchwandern. Es liegt alles nahe beieinander. Die Wege sind kurz. Und immer lädt ein Café zur Pause ein. Als Treffpunkt der intellektuellen Schickeria hat das Sechste freilich längst ausgedient. Wer auf sich hält, hat sich weiter südlich ins Montparnasse-Viertel zurückgezogen oder ist neuerdings auf die andere Seite der Seine, die
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