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mich um ein Haar skalpiert hätte. Eine weitere Kugel — kaum war ich in Sicherheit — zertrümmerte direkt über meinem Kopf das Glas eines Bildes. Splitter rieselten auf meine Schultern. Es fing langsam an, in dem eleganten Salon nach Schießpulver zu stinken... und nach Alkohol. Die unschuldigen Flaschen hatten auch dran glauben müssen...
Plötzlich ging im linving-room das Licht aus. Dafür wurde es auf der Leinwand hell. Eine Kugel mußte den berühmten Hebel getroffen haben, der den Filmprojektor in Gang setzte. Auf der Leinwand zogen die makabren Bilder der Jagd des Grafen Zaroff vorüber.
Gewehr im Anschlag, Grausamkeit im Blick, den Mund von sadistischer Wollust verzerrt, gutturale Laute ausstoßend — so stürzte der Graf Zaroff durch den Park, in dem zwei Menschen wie Tiere ausgesetzt worden waren...
„Hier entlang, Exzellenz“, rief ein zerlumpter Bauer.
„Auf, auf“, rief Zaroff.
Das Paar flüchtete auf einen schmalen Pfad.
„Ich kann nicht mehr“, schluchzte die junge Frau.
„Ich werde Sie retten, Geliebte“, versprach der Mann.
Die junge Frau sank erschöpft zu Boden. Der Mann beugte sich über sie. Dann folgte er dem Blick seiner Schicksalgefährtin und sah... die teuflische Gestalt des Grafen Zaroff auf einem Hügel. Schüsse. Der Graf lachte, öffnete den Mund, sagte etwas... aber da fiel der Ton aus. Außer dem surrenden Geräusch des Projektors herrschte Stille im Zimmer. Stille herrschte im Zimmer!
Ich schüttelte die Splitter ab und kroch hinter meiner Deckung hervor. Schwankend näherte ich mich einem Körper, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich lag. Er hatte eine Kugel in den Rücken gekriegt. Die amerikanische Cowboyjacke mit den Lederflicken an den Ellbogen färbte sich langsam blutrot. Ein paar Meter daneben ruhte in Frieden Roland Gilles, ein Lächeln auf den Lippen. Er war bestimmt glücklich, seinen Freund gerächt zu haben. „Mac Gee und ich, wir waren so .. Zwei Finger aneinandergelegt. Sollten Schwarz und Weiß jemals vereint sein — im Paradies oder in der Hölle — , dann würde Roland Gilles seinen Freund nicht lange suchen müssen. Sie könnten wieder wie zwei Finger derselben Hand sein.
Monsieur Germain Saint-Germain hatte bei der allgemeinen Verteilerstunde reichlich was abgekriegt, atmete aber noch. Wenn er lange genug atmete, konnte er noch einen Bestseller schreiben. Stoff dafür hatte man ihm soeben geliefert. Aber... würde er’s schaffen?
Auf der Leinwand lief der Film in der stummen Version weiter. Dann wurde es wieder hell im Zimmer, ohne Übergang, so daß ich geblendet wurde. Die Vorführung war beendet. Überhaupt war so einiges beendet.
Mein rechter Arm wurde mir seltsam schwer. Ach ja, ich hielt immer noch meine Kanone in der Hand. Seit wann hatte ich sie jetzt nicht mehr weggesteckt? Hoffentlich hatte ich keinen Gebrauch von ihr gemacht! Aber das konnte ich beim besten Willen nicht sagen. Ich umklammerte den Griff. Es kostete große Mühe, ihn loszulassen. Noch lange danach tat mir die Hand weh. Auch im Rücken spürte ich Schmerzen. Auf meinen Schultern lasteten Zentner. Ich hatte die Schnauze gründlich voll von Saint-Germain-des-Prés und seinen Kellern, den Kellern, die manchmal so tief wie Gräber waren, auf denen die Tannen für die Särge wachsen. Plötzlich mußte ich lachen. Wollte gar nicht wieder aufhören, bis mir alles wehtat. Bergougnoux war nun wirklich der Atem ausgegangen. Hätte er dafür keinen Ghostwriter engagieren können?
In den Bäumen des Jardin du Luxembourg stimmten Hunderte von Vögeln ihr Morgenkonzert an und begrüßten so den neuen Tag. Einen heiteren, warmen Sommertag, wie ich ihn liebe. Heute würde ich allerdings nicht viel von der Sonne haben. Ich wußte schon, wo ich den Tag verbringen mußte: in den düsteren, staubigen Räumen der Kripo. Und immer wieder dieselben Fragen der stämmigen Beamten, die sich nach ‘ner Weile ablösen. Kam nämlich natürlich nicht in Frage, daß ich das Schlachtfeld verließ. Nicht in Frage, leider... Also, Flic auf Flic...
Lautlos, auf Zehenspitzen, so als fürchtete ich, die Toten aufzuwecken, schlich ich zum Telefon.
Florimond Faroux sollte die üblichen Leichen geliefert kriegen.
Paris, 1955
Nachgang
Saint Placide, Saint Sulpice, Saint Germain. Unter der Erde von Paris haben die Überirdischen einen hohen Stellenwert. Nicht weniger als 18 Metro-Stationen tragen den Namen von Heiligen. Dabei gehören die Nächte von Saint Germain selten
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