No & ich: Roman (German Edition)
sind, wie sie sind. Aber ich glaube, man muss die Augen weit offen halten. Als ersten Schritt.
Voilà, das war der Schlusssatz.
Kurzer Blick auf meine Armbanduhr, ich habe nicht überzogen. Ich dürfte in etwa so rot sein wie mein Pulli, ich halte den Kopf gesenkt und wage es nicht, Monsieur Marin anzusehen, ich sammle meine übers Lehrerpult verstreuten Papiere ein, ich werde an meinen Platz zurückkehren müssen, ich bin nicht sicher, ob ich die nötige Kraft dazu habe, wenn ich verstört bin, bekomme ich weiche Knie, warum sagen sie nichts, warum herrscht da plötzlich diese Stille, sind sie alle tot, lachen sie, und ich kann sie nicht mehr hören, bin ich stocktaub geworden, ich wage den Kopf nicht zu heben, ein Zeitversetzung-um-zehn-Minuten-vorwärts -Schalter wär jetzt gut, sie klatschen, ich träume nicht, ich habe richtig gehört, ich sehe auf, ich sitze ihnen gegenüber, die ganze Klasse klatscht, sogar Léa Germain und Axelle Vernoux, Monsieur Marin lächelt.
Ich sitze wieder an meinem Platz und könnte auf der Stelle einschlafen, so müde bin ich, als hätte ich die Energie eines Jahres in einer einzigen Stunde aufgebraucht, als hätte ich sämtliche Batterien geleert, als bliebe nichts mehr, kein Funken, nicht einmal die Kraft, nach Hause zu gehen. Monsieur Marin hat mir ein »Sehr gut« gegeben und diktiert zum Schluss der Stunde noch einige Definitionen, die wir aufschreiben sollen: Sozialhilfe, medizinische Grundversorgung, Eingliederungsmindesteinkommen (erst ab fünfundzwanzig Jahren), Vierte Welt, Ausgr…
Eine Hand legt sich auf meine Schulter:
»Es hat geklingelt, Krümel …«
Lucas hilft mir, meine Sachen in den Rucksack zu räumen, wir verlassen den Klassenraum als Letzte, auf dem Gang lacht er los, er kann es nicht fassen, Krümel, du bist mitten in Monsieur Marins Stunde eingeschlafen, das muss in die Annalen der Schule, Lou Bertignac pennt während des Unterrichts und kommt ohne Nachsitzen davon!
Ich glaube, ich lache auch, ich bin glücklich, da, auf der Stelle, noch vom Schlaf benommen. Und wenn das das Glück wäre, wenn es gar kein Traum wäre, nicht einmal eine Verheißung, einfach nur der Augenblick?
A m verabredeten Tag und zur verabredeten Zeit ging ich wieder hin. No war nicht da. Ich wartete vor der Brasserie auf sie, ich suchte sie im ganzen Bahnhof, am Zeitungskiosk, vor den Schaltern, in den Toiletten, ich wartete neben dem Pfeiler, an den sie sich manchmal setzte, wenn keine Bullen in Sicht waren, ich suchte in der Menge nach der Farbe ihres Blousons und ihres Haars. Ich setzte mich in den Warteraum und hielt durch die Glasscheiben nach ihrer schmalen Gestalt Ausschau. Am nächsten Tag kam ich wieder, und am übernächsten Tag. Und dann an noch mehr Tagen. Als ich eines Abends zum zehnten Mal am Zeitungsstand vorbeikam, machte mir die rothaarige Dame ein Zeichen. Ich ging zu ihr.
»Suchst du Nolwenn?«
»Ja.«
»Ich habe sie lange nicht mehr gesehen. In letzter Zeit kommt sie nicht mehr allzu oft hierher. Was willst du von ihr?«
»Ach, nichts … Wir wollten nur was zusammen trinken.«
»Wahrscheinlich hat sie sich eine schönere Gegend gesucht. Aber sag mal, wissen deine Eltern, dass du hier bist?«
»Nein.«
»Weißt du, Kleine, du solltest nicht mit solchen Mädchen herumhängen. Ich mag Nolwenn gern, aber sie lebt auf der Straße, sie lebt nicht in derselben Welt wie du, du hast doch sicher Hausaufgaben und noch einen Haufen anderes zu erledigen, du solltest lieber wieder nach Hause gehen.«
Ich ging zur Metro hinunter, ich wartete auf den Zug. Ich betrachtete die Plakate, und mir war zum Heulen, weil No nicht mehr da war, weil ich sie hatte gehen lassen, weil ich mich nicht bei ihr bedankt hatte.
Meine Mutter sitzt in ihrem Sessel, mein Vater ist noch nicht zu Hause. Sie hat das Licht nicht eingeschaltet und sitzt mit geschlossenen Augen da, ich versuche, mich lautlos in mein Zimmer zu verdrücken, doch sie ruft nach mir. Ich gehe zu ihr, sie lächelt. Wenn sie mich so ansieht, wenn sie mir so nah ist, schiebt sich ein anderes Bild zwischen uns, ein zugleich durchsichtiges und scharfes Bild, wie ein Hologramm, ein anderes Gesicht, sanfter, ruhiger, ohne diese Falte auf der Stirn, das ist sie von vorher, sie lächelt mir mit einem echten Lächeln zu, einem Lächeln, das von innen kommt, keinem Fassadenlächeln, das die Risse verdeckt, keinem schweigenden Lächeln, sie ist es, und zugleich ist sie es nicht mehr, ich kann die echte nicht mehr von
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