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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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Körper, wie ein Luftloch, als rutschte mir der Magen plötzlich auf die Fußsohlen und schnellte dann ebenso plötzlich wieder nach oben, wie in den Aufzügen der Tour Montparnasse, wenn man zur Aussichtsplattform fährt. Er hat auf mich gewartet.
    »Magst du mit zu mir kommen, Krümel?«
    Panik in Disneyland, rote Warnlampen, Generalmobilmachung, biologischer Aufruhr, Kurzschluss, interne Karambolage, Not-Evakuierung, siderische Umlaufzeit.
    »Äh … Danke … Nein … Ich kann nicht.« (Diese Dialogmächtigkeit, wie mein Vater sagen würde.)
    Ich möchte zu gerne, aber wenn.
    Vielleicht hat es gar nichts damit zu tun.
    Aber wenn er mich küsst.
    Vielleicht will er sich ja nur ein bisschen mit mir unterhalten.
    Aber wenn.
    Wenn man küsst, in welche Richtung muss man dann die Zunge drehen? (Rein logisch gesehen im Uhrzeigersinn, aber andererseits hat Küssen, nehme ich zumindest an, nichts mit Logik, mit der üblichen Ordnung zu tun, es ist also nicht auszuschließen, dass man sie gegen den Uhrzeigersinn dreht.)
    »Ich muss nach Hause. Danke. Vielleicht ein andermal.«

    Er geht, die Hände in den Hosentaschen, die Säume seiner Jeans sind verschlissen, weil sie ständig über den Boden schleifen, selbst von weitem ist er schön. Vielleicht gibt es kein andermal. Vielleicht hat man im Leben eine einzige Chance, Pech, wenn man nicht imstande ist, sie zu ergreifen, sie kommt nicht wieder. Vielleicht habe ich gerade meine Chance verpasst. Im Bus betrachte ich die Leute, ich frage mich, ob sie imstande waren, ihre Chance zu ergreifen, nichts weist darauf hin, nichts spricht dagegen, auf allen Gesichtern derselbe müde Ausdruck, manchmal ein vages Lächeln, ich steige ein paar Stationen vorher aus, um zu laufen, das mache ich oft, wenn ich keine Lust habe, nach Hause zu gehen, jedenfalls nicht sofort. Ich gehe nicht mehr zum Bahnhof, ich trödele ein bisschen über den Boulevard Richard-Lenoir, dort gibt es viele Obdachlose, in den kleinen Parks und Grünanlagen auf dem Mittelstreifen und den Plätzen, sie haben sich zu Grüppchen zusammengefunden mit ihren Taschen, Hunden und Schlafsäcken, sie versammeln sich um die Bänke, sie unterhalten sich, trinken aus Bierflaschen, manchmal lachen sie, sie sind fröhlich, manchmal streiten sie auch. Oft sind Mädchen bei ihnen, junge Mädchen, sie haben strähniges Haar, alte Schuhe und so. Ich betrachte sie aus der Ferne, die kaputten Gesichter, die rissigen Hände, die vor Dreck starrende Kleidung, das zahnlückige Lachen. Ich betrachte sie voller Scham, sie klebt an mir, diese Scham, weil ich auf der sicheren Seite bin. Ich betrachte sie mit der Angst, No sei wie sie geworden. Durch meine Schuld.

    Vor einigen Tagen ist Mouloud gestorben. Er lebte seit zehn Jahren auf der Straße, in unserem Viertel. Er hatte sein Metrogitter an einer Straßenkreuzung, in einer Mauernische direkt neben der Bäckerei. Das war sein Territorium. Auf dem Weg zur Grundschule habe ich ihn einige Jahre lang dort gesehen, jeden Morgen und jeden Abend. Die Schulkinder kannten ihn gut. Anfangs hatten wir Angst vor ihm. Und dann gewöhnten wir uns an ihn. Wir grüßten ihn. Wir blieben stehen und unterhielten uns mit ihm. Er ging nicht in die Unterkünfte, weil sein Hund nicht mitdurfte. Nicht einmal, wenn es sehr kalt war. Die Leute gaben ihm Decken, Kleider und Nahrungsmittel. Er war Stammgast im Café gegenüber, ansonsten trank er Wein aus Plastikflaschen. Weihnachten bekam er Geschenke. Mouloud war Kabyle, er hatte blaue Augen. Er war schön. Es hieß, er sei zehn Jahre lang Arbeiter bei Renault gewesen und dann sei ihm eines Tages die Frau weggelaufen.

    Mouloud erlitt einen Schwächeanfall, man brachte ihn ins Krankenhaus, und am nächsten Tag erfuhren wir, dass er an einer Lungenembolie gestorben war. Die Inhaber des Cafés sagten es meinem Vater. Die Leute fingen an, kleine Plakate, Briefe, Würdigungen und sogar ein Foto an der Stelle anzubringen, an der er sich niedergelassen hatte. Sie stellten Kerzen auf und legten Blumen nieder. Am Freitag darauf fand eine Versammlung statt, etwa hundert Menschen waren an seinem Zelt zusammengekommen, das noch dastand, niemand hatte daran rühren wollen. Am Tag darauf erschien in Le Parisien ein Artikel über Mouloud mit einem Foto seiner in einen Altar verwandelten Schlafecke.

    Die Dame von der Bar gegenüber nahm Moulouds Hund auf. Hunde kann man bei sich aufnehmen, Obdachlose nicht. Wenn jeder von uns einen Obdachlosen aufnähme, wenn sich jeder um

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