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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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der falschen unterscheiden, bald werde ich dieses Gesicht vergessen, mein Gedächtnis wird loslassen, bald wird es nur noch die Fotos als Erinnerungsstütze geben. Meine Mutter fragt mich nicht, warum ich so spät komme, sie hat jegliches Zeitgefühl verloren, sie sagt, dein Vater hat angerufen, er kommt gleich. Ich räume meine Sachen weg und beginne den Tisch zu decken, sie steht auf, folgt mir in die Küche, sie fragt, wie es mir geht, sie ist da, bei mir, und ich weiß, wie viel es sie kostet, es ist eine Anstrengung für sie, ich antworte, alles sei in Ordnung, ja, in der Schule geht es gut, ich war bei meiner Freundin, die, von der ich dir erzählt habe, ich habe ein »Sehr gut« fürs Referat bekommen, ich weiß nicht mehr, ob ich es euch gesagt habe, alles bestens, ja, die Lehrer sind nett, die Schüler auch, in zwei Tagen gibt es Ferien.
    »Schon?«
    Sie wundert sich, die Zeit vergeht so schnell, schon Weihnachten, schon Winter, schon morgen und nichts tut sich, und das ist das Problem, wirklich, unser Leben ist erstarrt, und die Erde dreht sich weiter.

    Als die Tür aufgeht, ist da dieser kalte Luftschwall von draußen, der mit einem Schlag den Flur erfüllt, mein Vater macht die Tür sofort wieder zu, voilà, er ist im Warmen, wir sind im Warmen, ich denke an No, irgendwo, ich weiß nicht wo, auf welchen Gehwegplatten, in welchem Luftzug.
    »Schau mal, Süße, ich hab was gefunden, was dich interessieren dürfte.«
    Mein Vater hält mir ein Buch hin, Vom unendlich Kleinen zum unendlich Großen, ich war im Internet darauf gestoßen und träumte schon seit Wochen davon, es ist tonnenschwer und voller herrlicher Bilder auf Hochglanzpapier und so, ich werde mich beherrschen müssen, damit ich es nicht schon vor dem Abendessen verschlinge.

    Erst einmal nehme ich die Moussaka-Verpackung, die noch auf dem Küchentisch liegt, an mich und erkläre laut und deutlich meine Absicht, sie zu behalten: Von nun an sei mir jede Lebensmittelverpackung von Picard auszuhändigen. Ich wolle in Bälde eine komparative Untersuchung durchführen, Tiefkühlgerichte seien keineswegs schlecht, doch sie schmeckten alle mehr oder minder gleich, egal ob Moussaka, Hackbraten mit Püree, Mittelmeer-Pfanne oder Stockfisch-Brandade, es müsse eine gemeinsame Zutat geben, irgendetwas Hervorschmeckendes. Meine Mutter lacht, und das kommt so selten vor, dass schon allein das gründliche Nachforschungen rechtfertigt.

    Im Bett denke ich an die Frau aus dem Zeitungskiosk, und mir geht wieder dieser Satz durch den Kopf, sie lebt nicht in derselben Welt wie du.
    Es ist mir scheißegal, dass es in der einen Welt mehrere Welten gibt und dass man in seiner bleiben soll. Ich will nicht, dass meine Welt eine Untermenge A ist, die keine Schnittmengen mit anderen Mengen (B, C oder D) bildet, eine an die Tafel gemalte in sich abgeschlossene Knolle, eine leere Menge. Ich wäre lieber anderswo, würde lieber einer Geraden folgen, die zu einem Ort führt, wo die Welten miteinander kommunizieren, sich überschneiden, wo die Umrisse durchlässig sind, wo das Leben linear verläuft, ohne Brüche, wo die Dinge nicht plötzlich und grundlos aufhören, wo den wichtigen Momenten eine Gebrauchsanweisung (Risikostufe, Netzanschluss oder Batterie, voraussichtliche Betriebsdauer ohne Stromzufuhr) und das nötige Zubehör (Airbags, GPS, ABS-System) beiliegen.

    Manchmal kommt es mir so vor, als wäre in meinem Innern etwas nicht in Ordnung, ein falsch angeschlossener Draht, ein defektes Teil, ein Fabrikationsfehler, nicht etwas Zusätzliches, wie man meinen könnte, sondern etwas, das fehlt.

M onsieur Muller, an die Tafel bitte.«
    Lucas fährt seinen großen Körper aus, er steht lässig auf, steigt aufs Podium und stellt sich vor die glatte Fläche.
    »Zeichnen Sie einen Kreis.«
    Lucas nimmt die Kreide und folgt der Anweisung.
    »Das ist Ihre Note.«
    Allgemeines Erbeben.
    »Sie dürfen Ihre Sachen packen und den Rest der Stunde im Hausaufgabenraum verbringen. Ich kann eine so dürftige Leistung in einem seit zwei Wochen angekündigten Test nicht akzeptieren.«
    Monsieur Marin verteilt die Hefte, Lucas packt mit unbewegter Miene seine Sachen und wirft mir einen verschwörerischen Blick zu.
    Es gehört mehr dazu, ihn aus der Fassung zu bringen. Schlurfend geht er zur Tür, er lässt sich Zeit.

    Nach der Schule sehe ich ihn, er lehnt rauchend an einem Einbahnstraßenschild. Er winkt mir zu und ruft meinen Namen, und jedes Mal fühlt es sich gleich an in meinem

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