No & ich: Roman (German Edition)
einen Menschen, einen einzigen, kümmern würde, ihm helfen und für ihn da sein würde, überlegte ich, dann gäbe es vielleicht weniger auf der Straße. Mein Vater antwortete mir, das sei nicht möglich. Alles ist immer komplizierter, als man auf den ersten Blick meint. Die Dinge sind, wie sie sind, und gegen viele kann man nichts tun. Wahrscheinlich ist es das, was man akzeptieren muss, um erwachsen zu werden.
Wir sind imstande, Überschallflugzeuge und Raketen ins All zu schicken, einen Verbrecher anhand eines Haars oder eines winzigen Hautpartikels zu identifizieren, eine Tomate zu züchten, die im Kühlschrank drei Monate lang völlig faltenfrei bleibt, und Milliarden von Informationen auf einem Mikrochip zu speichern. Wir sind imstande, die Leute auf der Straße sterben zu lassen.
I n den Weihnachtsferien bleiben wir in Paris. Meine Mutter verreist nicht mehr gern; das Land, die Berge, all das geht über ihre Kräfte, sie hat das Bedürfnis, zu Hause zu bleiben, sie braucht ihr vertrautes Terrain. Abends ist mir, als könnte ich uns von außen sehen, durch die großen Fenster, der Weihnachtsbaum funkelt hinten im Wohnzimmer, behängt mit denselben Kugeln und Girlanden, die wir seit Jahrhunderten immer wieder herausholen, niemand interessiert sich dafür oder achtet darauf, nicht einmal mein Vater, dabei ist er gut in Sachen Familien-Illusion. Wir wären uns sicher alle darin einig, dass es keinen Sinn hat, aber niemand sagt es, also holen wir jedes Jahr den Karton hervor, schmücken den Baum, planen das Essen. Meistens kommen meine Großeltern aus der Dordogne, am Weihnachtsabend schlafen sie bei uns, das Einzige, was mir Spaß macht, ist das sehr späte Abendessen, denn sie gehen zur Christmette (meine Großmutter will vorher nicht essen, weil sie mit vollem Magen einschlafen würde). Am nächsten Tag kommen meine Tante, mein Onkel und meine Cousins zum Mittagessen zu uns. Weihnachtsfrieden bedeutet, dass man so tun muss, als wäre man froh und glücklich und stünde mit allen Mitmenschen auf bestem Fuß. Zu Weihnachten zum Beispiel laden wir meine Tante ein (die Schwester meines Vaters), die sich immer im Beisein meiner Mutter über sie auslässt, als wäre meine Mutter gar nicht da, als wäre sie Teil der Zimmereinrichtung, Anouk sollte sich einen Ruck geben, irgendwann muss man sein Leben doch wieder in die Hand nehmen, findest du nicht, Bernard, das ist nicht gut für die Kleine, die ist doch so schon ganz durcheinander, und du, du siehst erschöpft aus, du kannst dich nicht die ganze Zeit um alles kümmern, sie muss einfach damit fertig werden. Mein Vater antwortet nicht, meine Mutter tut so, als hätte sie nichts gehört, wir lassen die Schüsseln kreisen, nehmen noch ein wenig Lamm, Truthahn oder was immer, reden weiter über ihren letzten Urlaub auf Mauritius, das Buffet war rie-sig, das Unterhaltungsprogramm phan-tas-tisch, wir haben ein sehr nettes Paar kennengelernt, die Jungs sind getaucht. Ich mag es nicht, wenn man Wehrlose angreift, es bringt mich aus der Fassung, und besonders, wenn es um meine Mutter geht, also habe ich eines Tages zu ihr gesagt: Und du, Sylvie, wie würde es denn dir gehen, wenn du dein totes Kind in den Armen gehalten hättest? Mit einem Mal herrschte polare Kälte, ich dachte wirklich, sie würde an ihrer Auster ersticken, es herrschte langes Schweigen, es war ein wunderbarer Augenblick, wegen des Lächelns, das auf den Lippen meiner Mutter erschien, ein ganz schwaches Lächeln, meine Großmutter strich mir über die Wange, und dann ging die Unterhaltung weiter.
Weihnachten ist eine Lüge, welche die Familien um kerzenbestückte tote Bäume versammelt, eine aus nichtssagenden Gesprächen gesponnene und unter kiloweise Buttercreme vergrabene Lüge, an die kein Mensch glaubt.
Sie sind alle wieder weg. Ich trage ein Goldkettchen mit einem herzförmigen Anhänger um den Hals, meine Eltern haben es mir geschenkt. Eines Abends beim Essen denke ich an No, Mouloud und Lucas, ich sehe auf den Teller vor mir, ich versuche gleichzeitig die Nudeln und das Klopfen meiner Füße unter dem Tisch zu zählen. Es macht mir Spaß, mich zweizuteilen, zwei Tätigkeiten parallel auszuführen, zum Beispiel ohne Unterbrechung ein Lied zu singen und gleichzeitig eine Bedienungsanleitung oder ein Plakat zu lesen. Ich stelle mich vor Herausforderungen, egal, wie absurd sie sind. Sechsundvierzig Nudeln und vierundfünfzig Klopfer später höre ich mit dem Zählen auf. All das ist sinnlos. Es
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