No & ich: Roman (German Edition)
macht mir ein Geschenk, da bin ich sicher, ein Geschenk auf ihre Art, mit dieser kleinen Grimasse, die nie aus ihrem Gesicht weicht, diesem Ausdruck von Abscheu und den harten Worten, die sie manchmal sagt, lass mich, lass mich in Ruhe, oder auch: Was glaubst du eigentlich? (Diese Frage ist keine Frage, und sie stellt sie oft, als wollte sie zu mir sagen: Woran glaubst du, an wen glaubst du, glaubst du an Gott?) Ein unbezahlbares Geschenk, ein Geschenk von großem Gewicht, und ich habe Angst, ich bin seiner nicht würdig, ein Geschenk, das die Farben der Welt verändert, ein Geschenk, das alle Theorien in Frage stellt.
E in Tag im Dezember, der Himmel hängt so schwer und tief wie in den Gedichten, die Fensterscheiben des Cafés sind beschlagen, und draußen regnet es wie aus Kübeln. In zwei Tagen muss ich mein Referat halten, ich habe ein ganzes Heft vollgeschrieben, ich schreibe, so schnell ich kann, ich habe Angst, es könnte das letzte Mal sein, ich habe Angst vor dem Augenblick, in dem ich weggehen werde, ich spüre, dass etwas fehlt, etwas Wichtiges, ich weiß nichts über ihre Familie oder ihre Verwandten, jedes Mal, wenn ich es versucht habe, tat sie, als hätte sie nichts gehört, als wäre sie zu müde, oder sie stand auf und sagte, sie müsse gehen. Das Einzige, was ich in Erfahrung bringen konnte, ist, dass ihre Mutter in Ivry lebt. Sie hat sich nie um sie gekümmert. Mit zwölf Jahren wurde No in eine Pflegefamilie gegeben. Seither hat sie ihre Mutter zwei- oder dreimal gesehen, und das ist lange her. Anscheinend hat ihre Mutter einen Sohn. Und ein neues Leben.
Heute Abend ist es zu spät, zu spät für alles, das denke ich, das geht mir durch den Kopf, es ist zu spät für sie, und ich muss nach Hause.
Ab wann ist es zu spät? Seit wann ist es zu spät? Seit dem ersten Tag, als ich sie sah, seit sechs Monaten, zwei Jahren, fünf Jahren? Kann man da rauskommen? Wie kann man mit achtzehn Jahren auf der Straße landen, mit nichts und niemandem? Sind wir so klein, so unendlich klein, dass sich die Welt weiterdreht, die unendlich große, und sich einen Dreck darum schert, wo wir schlafen? Das waren die Fragen, auf die ich Antworten suchte. Voilà, mein Heft ist voll, ich habe zusätzlich im Internet recherchiert, ich habe Artikel zusammengefasst, Umfragen gelesen, Zahlen, Statistiken und Trends verglichen, aber all das hat keinen Sinn, all das bleibt unverständlich, selbst mit dem weltgrößten IQ, hier bin ich, mit zerrissenem Herzen, sprachlos sitze ich vor ihr, ich habe keine Antwort, hier bin ich, wie gelähmt, dabei brauchte ich sie nur an der Hand zu nehmen und zu sagen, komm zu mir.
Ich schreibe zwei, drei Sachen auf die letzte Seite, um nicht die Fassung zu verlieren. Sie schweigt. Es ist achtzehn Uhr. Es ist vielleicht das letzte Mal, und es liegt nichts vor ihr, nichts mehr, kein Plan, kein Weg, kein Ausweg, sie weiß nicht einmal, wo sie heute Nacht schlafen wird, ich sehe genau, dass auch sie daran denkt, dennoch, sie sagt nichts. Schließlich stehe ich auf.
»Also. Äh. Ich muss jetzt gehen.«
»O.k.«
»Bleibst du hier?«
»Ja, ich bleib noch ein bisschen.«
»Möchtest du noch etwas bestellen?«
»Nein, nein. Schon gut.«
»Wirst du … Wirst du noch manchmal am Bahnhof sein?«
»Weiß nicht. Vielleicht.«
»Könnten wir uns Dienstag treffen, um dieselbe Zeit? Dann könnte ich dir von meinem Referat erzählen.«
»Hmhm, wenn du willst.«
Ich gehe zur Metro hinunter, und mir ist schwindelig, diese Angst ist viel größer als die vor einem Referat vor der ganzen Klasse, diese Angst ist größer als die, die ich empfände, wenn ich dazu verurteilt würde, bis zum Ende meiner Tage jede Woche ein Referat zu halten, es ist eine namenlose Angst.
M itten in der Stadt gibt es diese unsichtbare Stadt. Diese Frau, die jede Nacht mit ihrem Schlafsack und ihren Taschen an derselben Stelle schläft. Auf dem Bürgersteig. Die Männer unter den Brücken und in den Bahnhöfen, die Leute, die sich auf Pappkartons legen oder auf einer Bank zusammenrollen. Eines Tages fängt man an, sie zu sehen. Auf der Straße, in der Metro. Nicht nur die, die betteln. Sondern die, die sich verstecken. Man bemerkt ihren Gang, ihre unförmige Jacke, ihren löchrigen Pullover. Eines Tages beginnt man sich für eine Gestalt, einen Menschen zu interessieren, stellt ihm Fragen, sucht nach Gründen und Erklärungen. Und dann zählt man. Die anderen. Zu Tausenden. Wie Symptome unserer kranken Welt. Die Dinge
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