No & ich: Roman (German Edition)
nicht mehrere Tage hintereinander am selben Ort bleiben. Das gehört zu ihrem Leben. Sich niederlassen. Und wieder weggehen. Gefahren meiden. Auf der Straße gibt es Regeln. Und Gefahren. Besser, man fällt nicht auf. Senkt den Blick. Verschmilzt mit seiner Umgebung. Dringt nicht ins Nachbarterritorium ein. Weicht den Blicken aus.
Draußen nämlich ist sie Beute.
Heute erzählt sie von dieser schwebenden, wie angehaltenen Zeit, von den Stunden, die sie umherläuft, damit der Körper nicht auskühlt, von den Pausen bei Monoprix oder in anderen Warenhäusern, wo sie zwischen den Regalen herumtrödelt und unbemerkt zu bleiben versucht, davon, wie sie vom Wachpersonal mehr oder minder brutal wieder auf die Straße befördert wird. Sie beschreibt mir diese unsichtbaren Orte, die sie zu erkennen gelernt hat, Keller, Parkhäuser, Lager, technische Gebäude, verlassene Baustellen, Hallen. Sie spricht nicht gern über sich. Sie tut es, indem sie über das Leben der anderen spricht, der Menschen, denen sie begegnet, denen sie folgt, sie erzählt davon, wie sie sich treiben lassen und manchmal gewalttätig werden. Sie erzählt von den Frauen, es sind keine Stadtstreicherinnen, sagt sie nachdrücklich, keine Durchgeknallten, schreib das auf, Lou, sagt sie, in deinen Worten, es sind normale Frauen, die ihre Arbeit verloren haben oder von zu Hause geflohen sind, die man verprügelt oder vertrieben hat und die in Notunterkünften oder in ihrem Auto leben, Frauen, denen man begegnet, ohne sie zu sehen, ohne es zu wissen, sie wohnen in schäbigen Hotels, sie stehen jeden Tag Schlange, um ihre Familie zu ernähren, und sie warten darauf, dass die Restaurants du Cœur wieder aufmachen.
Einmal erzählte sie von einem Typ, der ihr den ganzen Tag gefolgt ist, sie wusste nicht mehr, wie sie ihn loswerden sollte, er hatte sich neben sie auf eine Bank am Canal Saint-Martin gesetzt, als sie wegging, folgte er ihr, ziemlich dicht, sie sprang über ein Drehkreuz der Metro und schob sich hinter die Bahnsteigsperre, er tat es ihr nach, sie sagte, man habe ihm angesehen, dass er sonst nichts zu tun hatte, ein echter Prolet aus der Banlieue, die erkenne ich zehn Meilen gegen den Wind, das sag ich dir. Schließlich fing sie mitten auf der Straße an, ihn zu beschimpfen, sie schrie so laut, dass er endlich ging. Sie ist immer auf der Hut, steht immer unter Spannung, sie erträgt es nicht, dass die Leute sie ansehen, auch nicht im Café, wenn sich jemand nach ihr umsieht, schickt sie ihn immer gleich zum Teufel, willst du ein Foto von mir, oder was ist an mir so Besonderes? Sie hat etwas Beeindruckendes, Respekteinflößendes, im Allgemeinen stehen die Leute dann auf und gehen brummelnd, einmal murmelte ein Typ armes Mädchen oder etwas in der Art, No stand auf und spuckte auf den Boden, genau vor seine Füße, und in ihren Augen lag eine solche Wildheit, dass er sich still verdrückte.
Ein anderes Mal erzählt sie mir von einer Frau, die unten in der Rue Oberkampf schläft, jede Nacht, sie will nicht mitgenommen werden, sie lässt sich dort jeden Abend mit sechs oder sieben Plastiktüten vor dem Blumengeschäft nieder, breitet ihren Schlafsack aus, stellt die Tüten sorgfältig rings um ihr Lager auf und schläft dort jede Nacht unter freiem Himmel. Ich frage, wie alt sie ist, No weiß es nicht, so ziemlich weit in den Fünfzigern, sagt sie, neulich hat sie sie bei den Petits Frères des Pauvres, die sich besonders um hilfsbedürftige ältere Leute kümmern, herauskommen sehen, mit ganz geschwollenen Füßen, sie konnte nur mühsam laufen, sie krümmte sich und machte ganz kleine Schritte, No half ihr, die Plastiktüten zu ihrem Schlafplatz zu tragen, und die Frau sagte, ich bin Ihnen unendlich dankbar, und du müsstest sie mal reden hören, fügte No hinzu, wie eine Fernsehmoderatorin.
Gestern war sie bei der Suppenküche Saint-Eustache, zwei Frauen waren handgreiflich geworden, es ging um eine Zigarettenkippe, die auf der Erde lag, die Zigarette war erst halb aufgeraucht, sie schlugen sich unerbittlich, als man sie trennte, hatte die Jüngere ein dickes Haarbüschel in der Hand, und die andere Blut im Mund. Zum ersten Mal bricht Nos Stimme, sie schweigt, die Bilder stehen ihr vor Augen, und sie tun ihr weh, das sehe ich, siehst du, das wird aus einem, sagt sie dann, ein Tier, ein verdammtes Tier.
Sie beschreibt mir ihre Tage, was sie sieht und hört, und ich höre zu, so gut ich kann, und ich kann es gut, ich wage kaum zu atmen. Sie
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