No & ich: Roman (German Edition)
d’Auvergne haben wir unseren Tisch, ein wenig abseits, unsere Gewohnheiten und unser gemeinsames Schweigen. Sie trinkt ein oder zwei Bier, ich eine Cola, ich bin schon vertraut mit den vergilbten Wänden und deren abblätterndem Anstrich, mit den Wandlampen aus geschliffenem Glas, den altmodischen Bildern und der gereizten Art des Kellners, ich kenne No, ihre Art zu sitzen, leicht schief, ihr Zögern und ihre Schamhaftigkeit, die Energie, die sie aufbietet, um normal zu wirken.
Wir sitzen uns immer gegenüber, ich kann die Müdigkeit auf ihrem Gesicht sehen, sie ist wie ein grauer Schleier, der sie bedeckt, der sie einhüllt und vielleicht schützt. Sie war schließlich damit einverstanden, dass ich mir Notizen mache. Anfangs wagte ich keine Fragen zu stellen, aber inzwischen stürze ich mich ins Gespräch und bringe es notfalls wieder in Gang, ich frage wann, warum, wie. Immer lässt sie es sich nicht gefallen, aber manchmal funktioniert es, dann beginnt sie richtig zu erzählen, mit gesenktem Blick und den Händen unter dem Tisch, manchmal lächelt sie. Sie erzählt von der Angst, der Kälte, dem Umherirren. Der Gewalt. Von dem Hin- und Herfahren mit ein und derselben Metrolinie, um die Zeit totzuschlagen, von den Stunden, die sie in Cafés vor einer leeren Tasse zubringt, mit einem Kellner, der viermal wiederkommt und sich erkundigt, ob Mademoiselle noch einen Wunsch hat, von den Waschsalons, wo es warm ist und man in Ruhe gelassen wird, von den Bibliotheken, vor allem der Bibliothèque de Montparnasse, von den Tagesheimen, den Bahnhöfen und öffentlichen Parks.
Sie erzählt von diesem Leben, von ihrem Leben, von den Stunden, die sie mit Warten verbringt, von der Angst vor der Nacht.
Wenn ich mich abends von ihr trenne, weiß ich nicht, wo sie schläft, meistens verweigert sie mir die Antwort, manchmal springt sie hastig auf, weil irgendwo Aufnahmeschluss ist, sie muss rasch ans andere Ende von Paris, um ihren Platz in einer Warteschlange einzunehmen, eine Reihen- oder Zimmernummer zu bekommen, um in einem von den anderen Benutzern versifften Waschraum zu duschen und dann in einem Schlafsaal nach ihrem Bett zu suchen, dessen Bettzeug voller Läuse und Flöhe ist. Manchmal weiß sie nicht wohin, weil sie den SAMU social, dessen Anschluss meistens besetzt ist, nicht erreichen konnte oder weil schon alles belegt ist. Ich sehe zu, wie sie, ihren holpernden Koffer im Schlepptau, durch die Feuchtigkeit der letzten Herbstabende davongeht.
Manchmal lasse ich sie auch vor einem leeren Bierglas zurück, ich stehe auf, ich setze mich, ich trödele herum, ich suche nach etwas, womit ich sie trösten könnte, ich finde nicht das rechte Wort, ich schaffe es nicht zu gehen, und sie senkt den Blick und sagt nichts.
Und in unserem Schweigen lastet alle Ohnmacht der Welt, unser Schweigen ist wie eine Rückkehr zum Ursprung der Dinge, zu ihrer Wahrheit.
I ch glaubte verstanden zu haben, dass sie eine Gegenleistung erwartete. Als ich ihr jedoch das Paket hinhielt, das ich für sie gepackt hatte, wurde sie mit einem Mal ganz bleich und fragte: Was glaubst du eigentlich? Ich wollte ihr meine Mütze, meinen Regenschirm, meinen MP3-Player und sogar Geld schenken. Sie lehnte ab. Ich darf nur bezahlen, was sie trinkt. Seit ein oder zwei Wochen gebe ich ihr exakt den Betrag der jeweils letzten Rechnung, damit sie im Café auf mich warten kann. Es wird nämlich allmählich kalt. Manchmal hat sie das Geld schon vorher ausgegeben, aber der Kellner kennt uns inzwischen, sie darf sich hinsetzen und bestellen. Meinen Eltern habe ich gesagt, ich müsse zusammen mit Léa Germain ein Referat schreiben und wir würden bei ihr zu Hause daran arbeiten. Sie freuen sich darüber, dass ich eine Freundin gefunden habe, sie finden es positiv. Da ich bereits das ganze Geld ausgegeben habe, das Großmutter mir zum Geburtstag geschenkt hat (und das eigentlich zum Kauf der Encyclopedia Universalis auf CD-ROM bestimmt war), erfinde ich Kinobesuche mit Klassenkameraden – jedes Mal acht Euro –, und zu Hause erzähle ich dann ein paar mit vielen erfundenen Details angereicherte Szenen, meine Eltern gehen nämlich sowieso nie ins Kino, und gebe mein Urteil über den Film ab, ich suche mir etwas aus 20 minutes und À Nous Paris zusammen, den kostenlosen Zeitungen, die in der Metro herumliegen, schmücke es aus und versehe es noch mit einer kleinen persönlichen Note.
Wir treffen uns direkt im Café. Im Bahnhof wird es für No gefährlich, sie darf
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