No & ich: Roman (German Edition)
neben ihr eine leere Flasche steht. Es stimmt, dass das ganze Zimmer nach Alkohol stinkt. Es stimmt, dass es ihr nicht gutgeht. Nicht so besonders viel besser als vorher. Aber vorher war sie allein. Vorher hat sich kein Mensch gefragt, wo sie schlief und ob sie zu essen hatte. Vorher hat sich kein Mensch gefragt, ob sie nach Hause gekommen war. Jetzt gibt es uns. Wir bringen sie ins Bett, wenn sie es selbst nicht mehr schafft, wir haben Angst um sie, wenn sie nicht nach Hause kommt. Das ist der Unterschied. Das ändert vielleicht nicht den Lauf der Dinge, aber es macht einen Unterschied.
Lucas hört mir zu. Er sagt nichts. Du bist ganz klein, und du bist ganz groß, Krümel, könnte er sagen, aber er schweigt. Er weiß, dass ich recht habe. Das macht den Unterschied. Er streicht mir übers Haar.
Vorher glaubte ich, die Dinge hätten eine Bestimmung, einen verborgenen Sinn. Vorher glaubte ich, dieser Sinn sei der Gestaltung der Welt vorausgegangen. Aber der Gedanke, es gebe schlechte und gute Gründe, ist eine Illusion, und insofern ist die Grammatik eine Lüge, die uns glauben machen soll, dass die Sätze untereinander eine Logik bilden, die sich studieren ließe, eine seit Jahrhunderten tradierte Lüge, denn ich weiß jetzt, dass das Leben nur eine Folge von Ruhe- und Ungleichgewichtszuständen ist, deren Anordnung keiner Notwendigkeit unterliegt.
S ie haben die Kartons aus den Wandschränken geholt und auf den Boden gestellt, um den Inhalt zu sortieren. Sie sitzen alle beide auf dem Boden, die Gegenstände, Papiere und Zeitungen liegen ausgebreitet vor ihnen auf dem Teppichboden. Mein Vater hat zwei Tage Urlaub genommen, sie wollen ein großes Aufräumen veranstalten, bevor neu gestrichen wird.
Ich komme ins Wohnzimmer, den Rucksack über der Schulter, sie begrüßen mich. Meine Mutter weicht nicht von ihren rituellen Fragen ab, hattest du einen schönen Tag, hast du nicht zu lange auf den Bus warten müssen, ihr Haar ist offen, sie trägt die Ohrringe, die mein Vater ihr zu Weihnachten geschenkt hat.
Sie haben zwei Haufen gemacht: was sie behalten und was sie wegwerfen. Sie sind zufrieden. Sie räumen auf. Sie stellen sich auf ein neues Leben ein. Ein anderes Leben. Natürlich haben sie No nicht vergessen, nicht ganz. Manchmal sprechen wir abends beim Essen über sie, mein Vater versucht, mich zu beruhigen, eines Tages werden wir von ihr hören, da ist er sich ganz sicher. Er ruft immer noch bei der Sozialarbeiterin an, fast jede Woche.
Ich stelle den Rucksack in meinem Zimmer ab, schaue in der Küche in ein, zwei Schränke, schnappe mir einen Apfel und kehre zu meinen Eltern ins Wohnzimmer zurück. Sie arbeiten schweigend, meine Mutter sieht, einen Gegenstand in der Hand, fragend meinen Vater an, er antwortet mit einer Kopfbewegung, und sie legt den Gegenstand auf den richtigen Haufen. Dann ist er es, der sie bezüglich eines Stapels alter Zeitungen befragt, sie schneidet eine Grimasse, und er legt sie zur Seite. Sie verstehen sich.
»Ich bin zu einer Party bei einer Klassenkameradin eingeladen, nächsten Samstag.«
»Ah, fein.«
Mein Vater trifft die Entscheidung, meine Mutter hat nicht einmal den Kopf gehoben.
»Es ist abends. Ab acht.«
»Aha. Und bis wann?«
»Weiß ich nicht. Mitternacht vielleicht. Solange man will.«
»Na fein.«
Voilà. »Na fein.« Alles perfekt. Alles bestens. Die Sache ist geregelt.
Ich gehe in mein Zimmer zurück und lege mich auf den Rücken, mit ausgebreiteten Armen, wie No.
Ich mag dieses neue Leben nicht.
Ich mag es nicht, wenn die Dinge verblassen, sich verlieren, ich mag nicht so tun, als hätte ich es vergessen. Ich vergesse es nicht.
Ich mag es nicht, wenn es Abend wird. Diese Tage, die im Schatten verschwinden, für immer.
Ich suche Erinnerungen, scharf gestellte Bilder, die richtige Beleuchtung. Die Stunden, in denen meine Mutter und ich auf dem Boden saßen und mit den Playmobil-Männchen spielten, die Geschichten, die wir uns ausdachten, immer und immer neue. Wir teilten uns die Plastikfigürchen, Männer, Frauen und Kinder, wir gaben ihnen Stimmen und Vornamen, sie fuhren in dem gelben LKW zum Picknick ins Grüne, sie schliefen im Zelt, feierten Geburtstage. Sie hatten Fahrräder, Becherchen, abnehmbare Kappen und ein unveränderliches Lächeln. Das war vor Thaïs.
Ich erinnere mich an einen Herbstabend, später, ich muss neun oder zehn Jahre alt gewesen sein.
Meine Mutter und ich sind in einem Park, das Licht verblasst, es ist fast niemand mehr
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