No & ich: Roman (German Edition)
ist. Die Putzfrau kommt einmal in der Woche, vorher müssen Nos Sachen in den Schränken verschwinden, das Bett muss gemacht, das Zimmer gelüftet und jede Spur ihrer Anwesenheit getilgt sein. Wir sind perfekt organisiert. Wir haben ausgemacht, was wir am Telefon sagen, wenn seine Mutter anruft, wir haben Notfallszenarios und entsprechende Ausreden entworfen für den Fall, dass sie ohne jede Vorwarnung auftaucht, dass meine Eltern sich plötzlich in den Kopf setzen, mich abzuholen, dass Madame Garrige uns auf die Schliche kommt. Wir haben uns mit Vorwänden und Argumenten gewappnet.
Es gibt Tage, an denen No aufsteht, bevor wir aus der Schule kommen, sie sieht fern, während sie auf uns wartet, und empfängt uns mit einem Lächeln. Tage, an denen sie auf dem Sofa tanzt, an denen alles einfach erscheint, weil sie da ist. Tage, an denen sie kaum ansprechbar ist, Tage, an denen sie den Mund nur aufmacht, um Scheiße, fuck off oder verfickt zu sagen, Tage, an denen sie gegen Stühle und Sessel tritt, Tage, an denen man am liebsten sagen möchte, wenn’s dir nicht passt, dann geh doch heim. Das Problem ist nur, dass sie eben kein Heim hat. Das Problem ist, dass sie einzig ist, weil ich sie gezähmt habe. Ich bin sicher, dass auch Lucas sie mag. Auch wenn er mir manchmal ich hab’s satt sagt oder wozu das Ganze. Auch wenn er manchmal sagt, wir sind nicht stark genug, Lou, wir schaffen es nicht.
Einmal begleite ich No abends bis zum Hotel, es ist dunkel, sie will mir einen ausgeben, für all die Male, die ich sie eingeladen habe, wir gehen in eine Bar. Ich sehe ihr zu, wie sie drei Wodka hintereinander kippt, es ist wie ein Schlag in meine Magengrube, aber ich wage nichts zu sagen. Ich wüsste nicht was.
An einem anderen Abend gehe ich neben ihr her, ganz in der Nähe der Bastille, ein Mann spricht uns an, Sie haben nicht ein wenig Kleingeld, bitte, er sitzt auf dem Bürgersteig, an die Schaufensterscheibe eines leerstehenden Geschäfts gelehnt, No wirft ihm einen Blick zu, dann gehen wir an ihm vorbei, ohne stehen zu bleiben. Ich stoße sie mit dem Ellbogen an, das ist doch Momo, dein Kumpel von der Gare d’Austerlitz! Sie bleibt stehen, zögert eine Sekunde, dreht sich dann um und geht zu ihm. Salut, Momo, sagt sie und hält ihm einen Zwanzig-Euro-Schein hin. Momo steht auf, kerzengerade steht er vor ihr und sieht sie von Kopf bis Fuß an, er nimmt den Schein nicht, er spuckt auf die Erde und setzt sich wieder. Ich weiß, was sie denkt, als wir weitergehen, zu dieser Welt gehört sie nicht mehr und zu unserer gehört sie auch nicht, sie ist weder draußen noch drinnen, sie ist dazwischen, da, wo nichts ist.
Ein anderes Mal ist sie gerade aufgestanden, Lucas ist unterwegs und kauft ein, wir beide sind im großen Wohnzimmer, ihr Hals ist voller roter Male, sie behauptet, ihr Schal habe sich in einer Rolltreppe verfangen. Das glaubst du doch selbst nicht, vermag ich nicht zu sagen, und einen Wutanfall bringe ich schon gar nicht zustande. Ich bin nicht mehr in der Lage, sie mit Fragen zu bombardieren und unerbittlich auf eine Antwort zu warten. Ich sehe, sie freut sich, mich zu sehen, sie steht auf, sobald sie mich kommen hört. Ich sehe, dass sie mich braucht. Die wenigen Male, die ich nicht kommen konnte, weil es zu gefährlich gewesen wäre, ist sie in Panik geraten. Das hat Lucas mir erzählt.
Sie spart. Einen Schein nach dem anderen schiebt sie in einen braunen Umschlag. Wenn sie eines Tages genug zusammenhat, wird sie zu Loïc nach Irland gehen, das jedenfalls hat sie mir gesagt. Sie möchte nicht, dass ich Lucas davon erzähle. Weder vom Umschlag noch von Loïc, noch von Irland, noch irgendwas. Ich habe es mit erhobener Hand versprochen, wie damals als Kind, als ich beim Leben meiner Mutter schwor. Ich habe nie in den Umschlag hineinzusehen gewagt. Immer wenn Lucas nicht da ist, erzählt sie mir von Loïc. Von ihren Streichen im Internat, den Tricks, mit denen sie sich in der Mensa eine Extraportion verschafften, vom Kartenspielen und von ihren abendlichen Ausflügen.
Sie liebten sich. Das hat sie mir gesagt.
Sie erzählten sich ihre Probleme, ihre Träume, sie wollten zusammen weggehen, sehr weit weg, sie rauchten und tranken Kaffee im Gemeinschaftsraum, dessen graue Wände mit den Plakaten amerikanischer Filme beklebt waren. Stundenlang unterhielten sie sich leise, und wenn sie weggingen, blieben ihre Plastikbecher mit dem eingetrockneten Zucker zurück. Vor seiner Aufnahme ins Internat hatte Loïc eine
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