No & ich: Roman (German Edition)
Bäckerei ausgeraubt und einer alten Dame die Handtasche geklaut, deshalb hatte er in einer geschlossenen Einrichtung für straffällige Jugendliche gesessen. Er konnte Poker spielen, zog zerknitterte Geldscheine aus der Tasche und wettete um hohe Summen gegen kleine Einsätze, er hatte es No, Geneviève und einigen anderen beigebracht, in den stillen Schlafsälen spielten sie bis tief in die Nacht, noch lange nachdem das Licht ausgemacht worden war. Sie wusste, ob er gute Karten hatte, ob er bluffte oder schummelte, manchmal erwischte sie ihn in flagranti, dann warf sie ihre Karten auf den Tisch und ging weg, er lief ihr nach, hielt sie fest, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Ihr beide seid füreinander geschaffen, hatte Geneviève immer gesagt.
Ich würde No oft gern etwas fragen, über die Liebe und so, aber mir ist klar, dass es dafür nicht mehr der richtige Moment ist.
Als Loïc volljährig wurde, verließ er das Internat. Am letzten Tag erklärte er No, er werde nach Irland gehen, um dort Arbeit zu suchen und in einer neuen Umgebung zu leben. Er sagte, er werde ihr schreiben, sobald er dort eine Wohnung habe, und er werde auf sie warten. Das hatte er versprochen. Im selben Jahr ging Geneviève fort, um ihren Berufsschulabschluss zu machen. No war siebzehn. Im Jahr darauf fing sie wieder an wegzulaufen. Eines Abends begegnete sie in einer Pariser Bar einem Mann, er lud sie ein, sie trank ein Glas nach dem anderen und sah ihm dabei fest in die Augen, sie wollte sich von innen ausbrennen, sie lachte, sie lachte und weinte, bis sie mitten in der Bar vom Stuhl fiel. Erst kamen die Sanitäter, dann die Polizei, und so landete sie in einer Notaufnahmestelle für Minderjährige im Vierzehnten Arrondissement, einige Wochen oder Monate, bevor ich sie kennenlernte. Loïcs Briefe hat sie irgendwo versteckt, an einem Ort, den nur sie kennt. Dutzende von Briefen.
Wenn sie aufsteht und keine Kraft mehr hat, wenn sie nicht essen will, weil ihr übel ist, dann gehe ich zu ihr und sage ganz leise, denk an Loïc in Irland, er wartet auf dich.
I ch habe bis zum letzten Augenblick im Schulhof gewartet und nach Lucas Ausschau gehalten, ich bin erst nach allen anderen hinaufgegangen und habe gerade noch in die Klasse schlüpfen können, bevor Monsieur Marin die Tür schloss.
Lucas ist nicht da.
Monsieur Marin ruft die Namen auf. Léa trägt einen sehr engen schwarzen Pulli und Silberohrringe. Axelle hat wieder zu ihrer eigenen Haarfarbe zurückgefunden und Lipgloss aufgetragen. Léa dreht sich nach mir um und erkundigt sich, ob Lucas krank ist. Die beiden lächeln mir verschwörerisch zu. Monsieur Marin beginnt nach seiner üblichen Art den Unterricht, er geht durch die Reihen, die Hände auf dem Rücken verschränkt, er sieht nie in seine Unterlagen, er hat alles im Kopf, die Daten, die Zahlen und Kurven. Man könnte eine Stecknadel zu Boden fallen hören.
Irre, wie normal die Dinge scheinen können. Wenn man sich ein bisschen Mühe gibt. Nicht unter den Teppich sieht. Fast könnte man glauben, man lebe in einer vollkommenen Welt, in der alles schließlich doch noch in Ordnung kommt.
Wir haben schon mehr als eine halbe Stunde Unterricht, als Lucas an die Tür klopft. Monsieur Marin lässt ihn sich setzen und fährt in seinem Vortrag fort, Lucas holt seinen Hefter vor, zieht die Jacke aus, wir schreiben mit. Sollte Monsieur Marin das wirklich durchgehen lassen?
Nein.
Der Angriff lässt nicht länger auf sich warten.
»Monsieur Muller, war Ihr Wecker kaputt?«
»Äh, nein, Monsieur, mein Aufzug. Ich bin mit dem Aufzug stecken geblieben.«
Belustigtes Raunen geht durch die Reihen.
»Glauben Sie wirklich, ich würde das schlucken?«
»Hm, ja … das heißt … es ist die Wahrheit.«
»Monsieur Muller, ich unterrichte nun schon seit fast fünfunddreißig Jahren, Sie sind vermutlich der fünfzigste Schüler, der mir das Märchen vom Aufzug erzählt …«
»Aber …«
»Lassen Sie sich wenigstens etwas Phantasievolleres einfallen. Wir sind von Ihnen Besseres gewöhnt. Wenn Ihnen eine Ziegenherde den Weg versperrt hätte, hätten Sie mein volles Mitgefühl gehabt.«
»Aber …«
»Sie dürfen sich wieder anziehen. Gehen Sie und grüßen Sie die Schulleiterin von mir.«
Lucas steht auf, greift nach seiner Jacke und geht, ohne mich anzusehen. Er wirkte besorgt. Er ist einfach ohne ein Wort gegangen. Das ist nicht seine Art. Kein Murmeln, kein Knurren, er ist nicht einmal geschlurft oder hat die Tür
Weitere Kostenlose Bücher