No & ich: Roman (German Edition)
er spricht mit François Gaillard, mit weitausholenden Gesten, ich sehe von ferne, wie er mir zulächelt, und ich kann nicht anders, ich lächele zurück, obwohl ich böse bin, denn ich habe weder einen Panzer wie die Schildkröten noch eine Schale wie die Schnecken. Ich bin eine winzige Nacktschnecke in Tennisschuhen. Völlig schutzlos.
Léa und Axelle sind beim Verlassen der Schule in ein lautes Gespräch vertieft, mit Jade Lebrun und Anna Delattre, sehr schönen Mädchen aus der Abschlussklasse, und ich merke gleich, dass es um Lucas geht, sie haben mich nicht gesehen, ich bleibe im Schutz der Säule und spitze die Ohren.
»Heute Morgen war er in der Brasserie am Boulevard mit einem superseltsamen Mädchen zusammen, sie tranken Kaffee.«
»Wer war das Mädchen?«
»Weiß ich nicht. Sie war nicht von unserer Schule. Sie schien ziemlich in der Scheiße zu stecken, das kann ich dir sagen, wenn du ihr Gesicht gesehen hättest, weiß wie eine Wand, sie weinte, und er schrie sie an.«
Lucas kommt zu mir. Sie verstummen sofort. Wir beide gehen zur Metro. Ich sage nichts. Ich sehe auf meine Schuhe, die Fugen des Bürgersteigs und zähle Zigarettenkippen.
»Krümel, du solltest am Samstag zu Léas Party mitkommen, das würde dich auf andere Gedanken bringen.«
»Geht nicht.«
»Wieso nicht?«
»Meine Eltern wollen es nicht.«
»Hast du sie gefragt?«
»Ja, klar, hab ich sie gefragt, und sie wollen nicht. Sie finden, ich bin zu jung.«
»Schade.«
Von wegen. Es ist ihm wurscht. Er hat sein Leben. Jeder hat sein eigenes Leben. Letzten Endes hat No doch recht. Man darf nicht alles vermischen. Es gibt Dinge, die lassen sich nicht vermischen. Er ist siebzehn Jahre alt. Er hat keine Angst, angestarrt zu werden, er hat keine Angst, sich lächerlich zu machen, er hat keine Angst, mit den Leuten zu reden, oder mit den Mädchen, er hat keine Angst zu tanzen, keine Schwierigkeiten, nicht aufzufallen, er weiß, wie schön er ist, wie groß und stark. Und das geht mir auf die Nerven.
Wir gehen schweigend weiter. Ich habe keine Lust mehr, mit ihm zu reden. Trotzdem muss ich mit in seine Wohnung, wegen No. Als wir ankommen, will sie gerade zu ihrer Arbeit aufbrechen. Ich biete ihr an, sie zu begleiten, und verabschiede mich von weitem von Lucas. Wir nehmen die Treppe, weil ihr im Fahrstuhl schlecht wird. Es geht ihr übrigens überhaupt ganz einfach schlecht, das sieht man.
Unten auf der Straße holt sie einen Pappkarton aus ihrer Tasche. Sie hält ihn mir hin.
»Da, das ist für dich.«
Ich öffne ihn und sehe ein Paar rote Converse-Tennisschuhe, genau die, von denen ich immer träumte. Manchmal ist es wirklich schwierig, nicht in Tränen auszubrechen. Wenn ich irgendwas zu zählen finden könnte, jetzt gleich, damit wär mir echt geholfen. Aber weit und breit nichts, nichts außer den Tränen in meinen Augen. Sie hat mir ein Paar Converse gekauft, die mindestens sechsundfünfzig Euro kosten. Rote, wie ich sie immer haben wollte.
»Äh, danke. Das war wirklich nicht nötig. Du brauchst dein Geld doch noch, für die Reise …«
»Mach dir deshalb keine Sorgen.«
Ich gehe neben ihr her.
In den Tiefen meiner Tasche suche ich nach einem Papiertaschentuch, und sei es noch so zerfleddert. Ich finde nichts.
»Lucas, will er, dass du gehst?«
»Nein, nein, keine Sorge. Alles in Ordnung.«
»Hat er dir nichts gesagt?«
»Nein, nein, es geht schon. Mach dir keine Gedanken. Es wird schon gehen. Ich muss weiter. Geh du nach Hause, ich geh allein weiter.«
Ich hebe den Kopf, mein Blick fällt auf die Werbetafel, vor der wir stehen geblieben sind. Es ist eine Parfümwerbung, eine Frau geht über die Straße, entschlossen, dynamisch, eine große Lederhandtasche über der Schulter, ihr Haar weht im Wind, sie trägt einen Pelzmantel, hinter ihr ahnt man eine Stadt in der Dämmerung, die Fassade eines teuren Hotels, die Lichter funkeln, und da ist auch noch ein Mann, er dreht sich nach ihr um, er ist fasziniert.
Wie hat diese Diskrepanz zwischen den Plakaten und der Wirklichkeit eigentlich angefangen? Hat das Leben sich von den Werbeplakaten entfernt, oder haben die Werbetafeln dem Leben die Solidarität aufgekündigt? Und wann? Was ist los?
Ich lasse No weitergehen, sie trägt eine Plastiktüte in der Hand, sie geht um die Straßenecke, kein Funkeln, das sie umgibt, alles ist düster und grau.
A ls ich nach Hause komme, werfe ich meine Sachen auf den Boden, ich möchte zu verstehen geben, dass ich aufgebracht bin,
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