No & ich: Roman (German Edition)
da, die anderen Kinder sind gegangen, es ist die Zeit des Badens, der Schlafanzüge, der über feuchte Füße gestreiften Pantoffeln. Ich trage einen geblümten Rock und Stiefeletten, aber keine Strumpfhose. Ich fahre mit meinem Rad, meine Mutter sitzt auf einer Bank und beaufsichtigt mich von ferne. Auf der Hauptallee werde ich schneller, meine Jacke ist fest zu, meine Haare fliegen im Wind, ich trete mit aller Kraft in die Pedale, um das Rennen zu gewinnen, ich habe keine Angst. In der Kurve gerate ich ins Rutschen, das Rad bricht zur Seite aus, ich fliege ein Stück durch die Luft und lande dann auf den Knien. Ich strecke die Beine aus, es tut weh. Die Wunde ist groß, voller Schmutz und Steinchen. Ich brülle.
Meine Mutter sitzt einige Meter entfernt auf ihrer Bank, sie starrt auf den Boden. Sie hat es nicht gesehen. Sie hört nichts. Es fängt an zu bluten, ich brülle noch lauter. Meine Mutter rührt sich nicht, sie nimmt ihre Umwelt nicht mehr wahr.
Ich schreie, so laut ich kann, ich schreie mir die Lunge aus dem Hals, meine Hände sind blutig, ich habe das kaputte Knie wieder an den Körper gezogen, auf meinen Wangen brennen die Tränen.
Ich sehe, wie eine Dame aufsteht und zu meiner Mutter geht. Sie legt ihr die Hand auf die Schulter, meine Mutter hebt den Kopf, die Dame zeigt in meine Richtung. Ich werde lauter. Meine Mutter winkt mir, ich solle kommen. Ich rühre mich nicht, ich brülle weiter. Sie bleibt sitzen, wie gelähmt. Da kommt die Dame zu mir und kauert sich neben mich. Sie holt ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und säubert mein Bein rings um die Wunde. Das muss desinfiziert werden, wenn du nach Hause kommst, sagt sie. Komm, sagt sie, ich bring dich zu deiner Maman. Sie hilft mir beim Aufstehen, nimmt mein Fahrrad und führt mich zur Bank. Meine Mutter empfängt mich mit einem schwachen Lächeln. Sie sieht die Dame nicht an. Sie sagt nicht danke. Ich setze mich neben sie, ich weine nicht mehr. Die Dame kehrt an ihren Platz zurück. Auf ihre Bank. Sie sieht zu uns herüber. Sie kann nicht anders. Ich halte das Papiertaschentuch der Dame fest in der Hand. Meine Mutter steht auf, lass uns gehen, sagt sie. Wir gehen. Wir gehen an der Dame vorüber, die mich nicht aus den Augen lässt.
Ich drehe mich noch einmal nach ihr um. Sie macht mir ein Zeichen mit der Hand. Und während die Nacht über einen menschenleeren Park hereinbricht, verstehe ich, was es bedeutet, ein solches Zeichen. Es bedeutet, man wird stark sein müssen, man wird viel Mut aufbringen müssen, man wird damit aufwachsen müssen. Oder vielmehr ohne das.
Ich gehe neben meinem Fahrrad her. Mit einem Knall fällt das Parktor hinter mir zu.
M onsieur Muller, stehen Sie auf und zählen Sie bis zwanzig.«
Heute Vormittag ist Lucas nicht in Form, man sieht es an seinen zusammengekniffenen Augen, dem strubbeligen Haar, dem abwesenden Blick. Er seufzt demonstrativ, erhebt sich in Zeitlupe und beginnt zu zählen.
»Eins, zwei, drei …«
»STOPP! … Das ist Ihre Note, Monsieur Muller, drei von zwanzig Punkten. Der Test war seit zwei Wochen angekündigt, Ihr Schnitt im zweiten Quartal liegt bei fünfeinhalb, ich werde bei der Direktorin drei Tage Ausschluss vom Unterricht beantragen. Wenn Sie diese Klasse ein zweites Mal wiederholen möchten, bitte sehr, Sie sind auf dem besten Wege. Sie können gehen.«
Lucas packt seine Sachen. Zum ersten Mal wirkt er gedemütigt. Er protestiert nicht, lässt nichts fallen, und bevor er die Klasse verlässt, sieht er sich nach mir um, in seinen Augen steht etwas wie Hilf mir oder Lass mich nicht im Stich, aber ich sitze auf meinem Stuhl und mime Gräfin Koks, mit durchgedrücktem Rücken und erhobenem Kopf, konzentriert wie ein Kandidat in einem Fernsehquiz. Ein Knopf Automatische Türverriegelung wär mir jetzt eine echte Hilfe.
Er geht zu Léas Party. Er geht ohne mich. Ich habe wirklich versucht, mir das alles vorzustellen, und mich mittendrin. Ich habe mir vorgestellt, ich wäre im Mittelpunkt des Festes, mit Spots, Musik, den Leuten aus der Abschlussklasse und so. Ich habe wirklich versucht, Bilder zu finden, die echt wirkten, ich, wie ich mitten unter den anderen tanze, ich, wie ich, ein Glas in der Hand, mit Axelle rede, ich, kichernd auf einem Sofa. Aber es funktionierte nicht. Es ist ganz einfach nicht möglich. Es ist unvorstellbar. Genauso gut könnte man sich eine Nacktschnecke auf der Internationalen Libellen-Ausstellung vorstellen.
Auf dem Schulhof halte ich nach ihm Ausschau,
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