Noah: Thriller (German Edition)
Tyrrhenischen Meer sehen konnte. Wie gerne säße er jetzt dort im Schatten unter seiner geliebten Stechpalme, mit einem guten Glas Brunello in der Hand und frischem Genzaneser Brot. So ließe sich der Untergang ganz bestimmt leichter ertragen.
Stattdessen muss ich hier unter Tage arbeiten.
Er hatte Zelle 4 A erreicht und löste den einfachen Querriegel vor der eingebeulten Tür. Von nun an atmete er nur noch durch den Mund. Die Zeit hatte ihn gelehrt, wie man die verbrauchte Luft hier unten am besten ertrug. Die Lüftung arbeitete noch, wurde aber nicht mehr gewartet, seitdem man sich entschlossen hatte, den römischen Standort aufzugeben. Keine guten Voraussetzungen für ein gesundes Raumklima in den hutschachtelgroßen Zellen, in denen die Patienten schlafen, essen, trinken und den Abort benutzen mussten.
»Guten Tag, Kilian.«
Dr. Bertani trat über die Schwelle in den grell erleuchteten Raum. Kilian Brahms schien nie das kalte Deckenlicht zu löschen, selbst beim Schlafen nicht.
Sein Patient verhielt sich ruhig wie immer. Der Journalist hatte noch nie Ärger gemacht, seitdem sie ihm Zeichenblock und Bleistifte überlassen hatten. Er trug einen ausgewaschenen Pyjama und schwarze Sportsocken und saß in seiner üblichen Position auf dem Boden: im Schneidersitz, den Block auf dem Schoß. Zuerst hatten sie gedacht, er würde unentwegt Striche und Kreise zeichnen. Erst später war ihnen die Bedeutung von Brahms’ Notizen klar geworden.
Einsen und Nullen.
Er schrieb an einem Computerprogramm.
»Damit kann man das Video auf jedes Portal laden«, hatte Brahms auf Nachfrage erklärt. »Wenn es klappt, könnte es die Welt retten.«
»Darf ich Sie stören?«, stellte Bertani die rhetorische Frage, mit der jede seiner Visiten begann. Brahms sah auf. Das ehemals wohlgenährte Gesicht war in den letzten Wochen schmaler und grau geworden; er wirkte krank, aber das hatte er bereits bei seiner Einlieferung getan.
»Lassen Sie mich gehen?«, fragte er. Wie üblich sein erster und meist auch einziger Satz.
Bertani nickte. Sonst hatte er stets bedauernd mit den Achseln gezuckt (»Sie wissen, das dürfen wir nicht«), aber heute war die Sachlage anders. Alles war auf einmal anders.
»Was ist passiert?«, fragte Brahms argwöhnisch. Seine Finger trommelten nervös auf dem Zeichenblock. Es war unschwer zu erkennen, dass er dem Sinneswandel seines Arztes nicht traute.
Bertani räusperte sich. »In einer unserer ersten Sitzungen haben Sie mir von dem Präsidenten erzählt.«
»Ja.«
»Was, sagten Sie, wird er tun?«
»Leugnen«, antwortete Brahms verwundert. Dann, mit Nachdruck: »Er wird die Seuche leugnen.«
»Weshalb?«
»Aus Angst. Er weiß nicht, wie man es sonst aufhalten soll.«
»Was?«
Brahms schälte sich aus dem Schneidersitz und stand auf. »Room 17.« Er wankte und stützte sich an der nackten Wand ab. »Ist es so weit?« Mit einem Mal wirkte er aufgeregt. »Hat er es tatsächlich getan?«
Bertani nickte. »Genau, wie Sie es vorausgesagt haben.«
Er löste ein Telefon von dem Gürtel seiner weißen Jeans. »Ich will, dass Sie einen Anruf für mich tätigen.«
»Wozu?«
Der Psychiater nahm Brahms an der Schulter und führte ihn zu seinem Bett, wo er ihn mit sanftem Druck zum Hinsetzen bewegte. »Wollen Sie Stufe drei stoppen, oder nicht?«, fragte er.
Brahms’ Augenlider zuckten. »Ja. Natürlich. Mit wem soll ich sprechen?«
Dr. Bertani reichte ihm das Telefon, das bereits eine eingespeicherte Nummer wählte.
»Sie kennen ihn, Kilian. Sie haben ihn sterben sehen.«
22. Kapitel
Oosterbeek, Niederlande
Es war die Konservendose, die ihm zeigte, dass er einen Fehler gemacht hatte. Noah war zerstreut gewesen, hatte sich nicht konzentriert, sondern beim Verlassen des zerstörten Quarantänezimmers darüber nachgedacht, ob der Alte die Maschinenpistole benutzen würde, die er ihm zurückgelassen hatte. Von all den Waffen, die er in seinen Besitz gebracht hatte, war ihr Abzug mit dem wenigsten Kraftaufwand zu lösen und die Feuerkraft am stärksten. Dennoch war er sich nicht sicher, ob der sterbende Patient seinem Leben selbst ein Ende setzen würde.
Todesangst ist ein seltsames Ding.
Erst in der Küche war Noah seine Nachlässigkeit bewusst geworden. Vielleicht war er einfach zu müde. Vielleicht hatte er zu lange nichts gegessen. Und letztlich war es müßig, über die Ursache nachzudenken: Noah hatte nicht aufgepasst und seinen Rückweg nicht genügend gesichert. Er war einfach davon
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