Noah: Thriller (German Edition)
bringen, den zerkauten zweiten Streifen wieder auszuspucken. Den ersten hatte er bereits heruntergeschluckt.
»Du jämmerlicher Scheißkerl«, weinte der Alte, nachdem er nicht mehr würgen musste. »Du kannst es eh nicht mehr stoppen, hörst du?«
Noah räumte mit seinem Ellenbogen den Beistelltisch ab, glättete das Papier und fügte den Streifen wieder an die Abrisskante an. Der Brief war in einem besseren Zustand, als er erwartet hatte. Bis auf den Kopf und wenige Stellen, bei denen der Speichel die Tinte verwaschen hatte, war der Hauptteil gut zu entziffern.
»Hast du mich gehört? Du hast versagt. Du hast es nicht aufhalten können.«
Noah versuchte die Beschimpfungen des Alten auszublenden und konzentrierte sich ganz und gar auf den Brief vor seinen Augen:
Lieber Vater,
ich bin zu Dir geflogen, um Dich in letzter Minute umzustimmen. Wenn Du meinen Abschiedsbrief hier liest, dann wird es mir wohl nicht gelungen sein, und ich bin bereits weitergereist, um Projekt Noah ohne Deine Mithilfe zu beenden.
Er sah auf. Dem Alten in die Augen.
Vater?
War es denkbar, dass er seine eigenen Eltern nicht erkannte, wenn er ihnen gegenüberstand? Er las weiter.
Anfangs war ich so überzeugt wie Du, und ich kann es nicht leugnen, im Grundsatz noch immer ein Anhänger unserer Idee zu sein. Aber wie Du weißt, hat sich einiges in meinem Leben verändert. Ich habe die Ketten meiner Kindheit gesprengt, die Isolation überwunden und mich verliebt. Der Wunsch, Kinder in diese Welt zu setzen, ist ungeplant gewachsen und lässt sich nicht mit Logik unterdrücken. So kitschig es klingen mag, aber das hat mir die Augen geöffnet. Alles, woran wir glauben, ist richtig. Alles, was wir tun, ist falsch. Es muss einen anderen Weg geben als Projekt Noah, das bis in alle Ewigkeit mit meinem Namen einhergehen wird, war ich es doch, der das letzte fehlende Puzzleteil zur Erreichung des großen Ziels erforscht und entwickelt hat.
Wie Du jetzt weißt, habe ich unsere letzte Konferenz auf Video aufgenommen. Ich werde dieses Band jemandem geben, der in der Lage ist, es zu veröffentlichen, auf eine Art, die von der Mehrheit der Menschen gehört und nicht als Verschwörungstheorie abgetan werden wird.
Stufe drei muss gestoppt werden. Es tut mir leid, ich kann nicht anders.
Dein Dich liebender Sohn
David
Noah las den Brief ein zweites Mal, dann faltete er ihn zusammen und steckte ihn ein.
Benommen von dem, was er eben über sich erfahren hatte, wandte er sich ein letztes Mal dem sterbenden Mann auf dem Krankenbett zu, der seine Augen wieder geschlossen hielt.
»Was habe ich getan?«, fragte er ihn.
Ich, David Morten.
Er bekam keine Antwort.
»Bin ich schuld an allem?«
An dieser Krankheit? An der Seuche, an der alle sterben? An der du gerade stirbst?
Keine Reaktion. Die Atmung des Alten ging wieder flach. Er schien nicht mehr bei Bewusstsein, aber da irrte Noah.
»Bitte, geh nicht«, hörte er ihn sagen, als er dabei war, das Krankenzimmer zu verlassen.
Es war mehr ein Röcheln, kaum zu verstehen.
Noah drehte sich um. »Wieso?«
Der Alte hob den Kopf, was ihm eine unendliche Kraftanstrengung abzuverlangen schien. Er hustete. Blut sprühte aus seinem zahnlosen Mund. Er zeigte auf die rechte, dann auf die linke Jackentasche Noahs, die beide von Waffen ausgebeult wurden.
»Tu mir wenigstens noch einen letzten Gefallen, du dreckiger Scheißkerl.«
20. Kapitel
»Papa, schalt sofort den Fernseher ein«, rief Cezet unnötigerweise. Als sie in Zaphires privaten Kabinenbereich im oberen Deck der 747 stürmte, lief NNN bereits auf den Bildschirmen.
»Sei still und setz dich«, befahl er seiner Tochter, die es vorzog, neben dem Bett stehen zu bleiben, obwohl die Anschnallzeichen erleuchtet waren und das Flugzeug immer wieder von Windböen erfasst wurde. Die Boeing kreiste im Luftraum über Amsterdam, und die Piloten warteten auf neue Anweisung, nachdem sie wegen der Ausnahmezustände am Boden keine Landegenehmigung erhalten hatten. Ihr Rat war es, nach Berlin zu fliegen, wo die Lage noch nicht so außer Kontrolle geraten war wie in anderen Teilen Europas.
Zaphire lag, einen halben Meter Kissen im Rücken, in der Mitte der Boxspringmatratze, einen Laptop auf dem Schoß und die Fernbedienung in der Hand. Die linke Hälfte seines Brustkorbs fühlte sich an wie gelähmt, seine Augen tränten, er war müde und benebelt von den Morphinen, die in ihm ihre schmerzstillende Arbeit verrichteten. Aber er durfte sich jetzt keine Ruhe
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