Noah: Thriller (German Edition)
einem Haltegriff über der Tür.
Sie rasten über einen betonhart gefrorenen Boden, der, wenn überhaupt, nur von Forstfahrzeugen benutzt wurde und sicher nie in einem derart wahnwitzigen Tempo.
»Das werden wir gleich herausfinden«, antwortete Noah und suchte im Rückspiegel den Augenkontakt mit Altmann. »Haben Sie einen Laptop oder ein internetfähiges Smartphone?«, fragte er ihn.
Altmann nickte und griff in seine Hosentasche.
»Ist ein Videokonferenzprogramm installiert?«
»Hier.« Altmann reichte über Oscar das flache Handy mit der bereits geöffneten Applikation nach vorne.
»Danke.«
Noah bat Celine, es so zu halten, dass er das Display sehen konnte, ohne die Hände vom Lenkrad nehmen zu müssen. Er öffnete die Telefonliste seines eigenen Handys und nannte Celine die vierzehnstellige Nummer des Anschlusses, von dem aus er gerade angerufen worden war. Sie tippte sie in Altmanns Smartphone und drückte auf den grünen Button für den Verbindungsaufbau.
»Das ist eine italienische Vorwahl«, bemerkte Oscar von hinten. Altmann pflichtete ihm bei. Noah fielen die Einreisestempel in den Reisepässen ein.
Rom. Amsterdam und … verdammt. Was war noch mal die dritte Stadt, die ich besucht habe?
Er bog nach links in einen noch schmaleren Waldweg. Der Pfad war selbst einspurig kaum befahrbar, Zweige kratzten am Lack des Transporters. Noah musste das Tempo deutlich drosseln.
Es wird schlimmer. Nicht besser.
Plötzlich tutete es so laut, dass er zusammenzuckte. Als am anderen Ende abgenommen wurde, dauerte es noch fünf Sekunden, bis das Display ein taugliches Bild zeigte.
Noah konnte einen braunhaarigen Mann im Alter von höchstens dreißig Jahren erkennen. Auf dem langen, dünnen Hals thronte ein rundlicher Kopf wie ein Luftballon auf einem Stil. Kaltes Halogenlicht strahlte ihm direkt ins Gesicht, weswegen er die Augen zusammenkniff. Er war krankhaft blass, was die roten Flecken an Hals und Stirn noch verstärkte, vermutlich litt er an Neurodermitis oder Schuppenflechte. Seine Ohren waren knallrot, als wäre er gerade aus der Kälte gekommen, sein Pyjama hingegen passte zu dem Eindruck, dass er gerade erst aufgewacht war. Er hatte lange, gerade gewachsene Zähne, bis auf einen oberen Schneidezahn, der wie der Schnabel eines Vogels durch die wundgekaute Oberlippe brach. Zwei Dinge waren für Noah offensichtlich: Der Mann war in äußerst schlechter Verfassung. Und er hatte Kilian Brahms noch nie zuvor gesehen.
Zumindest erinnere ich mich nicht daran.
»Können Sie mich sehen?«, fragte Brahms über die auf Freisprechanlage geschalteten Lautsprecher des Handys. Seine Stimme wurde von dem Brummen des Diesels verschluckt, nur Celine neben ihm konnte mithören.
»Ja. Sie mich auch?«
»Nein, ich hab hier nur wildes Flackern auf dem Bildschirm.«
»Sie müssen die Kamera drehen«, riet Celine.
Sie drückte auf einen Button, mit dem der Selbstporträtmodus des Handys aktiviert wurde, so dass die Kamera, die bis jetzt das Armaturenbrett gefilmt hatte, nun Noahs Gesicht einfing. Brahms’ Reaktion war dramatisch.
»Ach du Scheiße!«, schrie er. Seine Augen wurden größer und drohten vor Entsetzen aus ihren Höhlen zu quellen. Er riss den Mund auf und blähte die Nasenflügel, dabei stocherte er mit dem Zeigefinger vor der Linse der Kamera in der Luft herum.
»Das ist unmöglich«, krächzte er. »Völlig unmöglich.«
»Was haben Sie?«, fragte Noah.
»Sie sind es tatsächlich.«
»Wer?«
»David Morten.«
»Wir kennen uns?«
»Ja, wir hatten eine Verabredung.«
»Wann?«
»Vor einem Monat, in Berlin. Im Hotel Adlon. Aber … aber das ist unmöglich.«
»Weshalb?«
Eine heftige Bodenwelle erschütterte den Wagen und seine Insassen.
»Weil Sie schon tot waren, als ich in Ihr Zimmer kam.«
26. Kapitel
Der Pfad wurde wieder breiter, sie passierten eine Waldarbeiterhütte und einen Wegweiser, der vermutlich für Spaziergänger aufgestellt war. Weiter vorne konnte Noah die Landstraße ausmachen, von der sie abgebogen waren. In der Hoffnung, die Absperrung umfahren zu haben, beschleunigte er wieder.
»Weswegen wollten wir uns treffen?«, fragte er den Mann, der ihn gerade für tot erklärt hatte. Das Bild von der blutenden Leiche vor dem Kamin kam ihm wieder in den Sinn, doch es war nicht mehr so deutlich wie in dem Moment des Flashbacks, als er sich beim Betreten der Suite erinnert hatte.
Mein Gedächtnis. Es wird schlimmer. Nicht besser.
»Wegen Stufe drei.« Kilian Brahms
Weitere Kostenlose Bücher