Noah: Thriller (German Edition)
brennenden Hauses, auf das er nun erstmals einen ungehinderten Blick hatte, nachdem er von der Panikwelle auf den Platz ausgespuckt worden war.
Das mehrstöckige Steinhaus brannte vom zweiten Stockwerk an bis zum Dachstuhl. Nur die unteren Etagen waren von den Molotowcocktails verschont geblieben, die in die Fenster der oberen Stockwerke geschleudert worden waren.
FARMACIA, las Noah von einem bauchigen Emaille-Schild, das über den Ladenräumen im Erdgeschoss hing. Türen und Schaufenster der Apotheke waren eingetreten und eingeschlagen von den Menschen, die jetzt über die Scherben und Splitter wieder nach draußen stiegen, Hände und Taschen voll mit Medikamenten, Möbeln und anderem Inventar. Zwei Frauen wuchteten gemeinsam ein leeres Regal ins Freie. Ein korpulenter Mann schleppte mit feistem Grinsen einen Bonbonständer an Noah vorbei.
ZetFlu, dachte er. Einen anderen Grund konnte er sich für den Ausbruch der Gewalt nicht denken.
Vermutlich war die Ausgangssperre verhängt worden, damit es nicht, wie in den USA bereits geschehen, zu unkontrollierbaren Hamsterkäufen des Medikaments kam, und diese Form der Ausgabebeschränkung an die Bevölkerung hatte nun zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen geführt: brennende Häuser, ein randalierender Mob, geplünderte Geschäfte.
Was für ein Irrsinn.
Noah sah sich um. Keine Spur von seinen Begleitern.
Die Apotheke, auf die er jetzt langsam zuging, leerte sich rasch. Noah sah nur noch wenige Gestalten im Inneren, und auch die strebten Richtung Ausgang, weil es nichts mehr zu holen gab; vor allem aber, weil die Lage mittlerweile auch im Erdgeschoss zu gefährlich wurde. Noah hörte eine kleine Explosion in einem der hinteren Räume, Glas splitterte, und eine wundrote Flammenwelle schwappte über die schmiedeeiserne Einfriedung eines kleinen Balkons in der ersten Etage, was die Mehrheit der Schaulustigen zurücktrieb.
Niemand, der alle Sinne beisammenhatte, wagte sich jetzt noch in das brennende Haus.
Niemand, abgesehen von einem einzelnen kugelbäuchigen Mann, der gerade die Stufen zum Laden hochstapfte und der wegen seiner kleinen Statur und dem langen Bart an einen Schlumpf erinnerte.
Oscar?
Noah rief ihn beim Namen, und tatsächlich war es sein Weggefährte, der sich auf der Schwelle zu ihm umdrehte.
Was zum Teufel …
Ihre Blicke trafen sich, und Oscar machte mit grimmiger Miene eine Handbewegung, ihm zu folgen. Dann zog er sich den Kragen seines T-Shirts über die Nase und verschwand in der Apotheke, in der kurz zuvor alle Lichter ausgegangen waren.
Verwirrt betrachtete Noah die Gruppe, aus der Oscar sich nur Sekunden zuvor gelöst hatte und die nur wenige Meter entfernt am Fuß der Terrassenstufen stand, die zu der Apotheke führten: zwei Jungen zwischen vierzehn und sechzehn Jahren und eine schmächtige Frau, die vom Alter her ihre Mutter sein konnte. Sie hatte schwarze, lockige Haare, war barfuß, trug ein Nachthemd und lebte offensichtlich mit ihren Kindern in einem der oberen Stockwerke.
Die Frau wand sich in den Armen ihrer kräftigen Jungen, die sie mit vereinten Kräften abhalten wollten, das zu tun, was Oscar gerade eben getan hatte: ins Haus zurückzukehren. Dabei schrie sie in einem fort: »Bambina mia, Julia. Bambina mia …«
Um Himmels willen.
Noah ahnte, welches Drama sich hier anbahnte.
»Du verdammter Idiot«, fluchte er und versuchte Oscar zu folgen, doch schon an der Schwelle zur Apotheke schlug ihm eine undurchdringliche, schmierige Rauchwolke entgegen. Selbst wenn es gelang, für eine Weile die Luft anzuhalten, würde er Oscar in diesem Qualm nicht finden können. Hustend machte Noah kehrt und suchte nach einem anderen Eingang.
Über das Schaufenster? Einen Seiteneingang? Wo zum Teufel ist das Treppenhaus für die Mieter?
Die Lage verschlimmerte sich sekündlich. Hatte Oscar es noch bis ins Innere geschafft, schien es nun keinen Zugang mehr zu geben. Von einem Ausgang ganz zu schweigen. Selbst einen Meter von der Fassade entfernt war die Hitze, die von dem Haus ausging, kaum zu ertragen.
Also gut.
Noah zog seine Jacke aus und machte sich bereit.
Er wusste, es war Wahnsinn.
Selbstmord.
Aber ihm blieb keine Wahl. Er konnte seinen Freund nicht im Stich lassen.
Also riss auch er sich sein Hemd über Mund und Nase und wollte gerade losstürmen – da trat Oscar, nur wenige Meter von ihm entfernt, aus einem Seitenausgang ins Freie.
Er hustete und brüllte etwas, was wegen des Rauschens der unersättlichen Flammen in seinem
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