Noah: Thriller (German Edition)
hinab. Oscar sollte wissen, dass er ihm nichts übel nahm. Wenigstens das musste er ihm versichern, wenn er doch sonst nichts mehr für ihn tun konnte.
»Tut … leid.«
»Das muss es nicht.«
Noah hatte es geahnt, als er die aus einem Prospekt herausgeschnittenen Fotos in Oscars Brieftasche gefunden hatte. Manuela war wie so vieles in dem Leben des Obdachlosen nur Einbildung gewesen.
»Doch, ich …«
Über ihren Köpfen gab es einen lauten Rums, Funken stoben bis zu ihnen nach unten – vermutlich war der Dachstuhl eingebrochen –, und Noah wusste, er sollte sich schleunigst aus der Gefahrenzone bringen, bevor sich noch weitere Gebäudeteile lösten und am Ende auch ihn zerschmetterten, aber er wollte Oscar nicht alleine lassen. Er konnte es nicht.
»Ich wollte nicht sein wie die anderen«, hörte er ihn sagen. Während die Hitze, die vom Haus ausging, unerträglich wurde, fühlte sich Oscars Hand immer kälter an.
»… wollte nicht …« Er hustete. Seine Augen wurden glasig. »… nicht nur ein Penner sein. Verstehst du?«
»Ja.«
Weiteres, jetzt dunkleres Blut quoll ihm aus dem Mund. Oscar zog die Nase hoch, atmete rasselnd aus. Hustete wieder. Dann löste er seine Hand aus Noahs Umklammerung und tastete nach dem Amulett unter seinem Pullover.
»Das Foto … Manuela … sie ist nur ein Fotomodell. Hab mir ihre Bilder aus Katalogen ausgeschnitten. Ich war … auch nie Arzt. Nur Entwicklungshelfer. Bin viel rumgekommen, aber das Elend hat mich fertig …« Er verzog vor Schmerzen das Gesicht, schaffte es aber noch zu ergänzen: »Tut mir leid, Großer. Ich hab dich angelogen.«
»Du hast mich gerettet«, erwiderte Noah und hob erneut den Kopf. Die Menge hatte sich ausgedünnt. Nur eine Ansammlung derer, die wohl in dem Haus gewohnt und nun alles verloren hatten, starrte fassungslos auf die Zerstörung; unter ihnen die Mutter mit ihren Kindern.
»Wo bleibt denn die Feuerwehr?«, schrie Noah in ihre Richtung. »Krankenwagen? Arzt? Doktor?«
»Vergiss es«, sagte eine Stimme neben ihm. Noah verdrehte den Kopf und starrte in das blutverschmierte Gesicht Adam Altmanns, der wie aus dem Nichts aufgetaucht schien. Abgesehen davon, dass er aufrecht stand, wirkte er nicht viel lebendiger als Oscar.
»Ganz Rom versinkt im Chaos«, erklärte er. »Die Notrufleitungen sind überlastet. Hier kommt keine Hilfe.«
Und wenn, dann zu spät.
Noah wandte sich wieder zu Oscar, dessen einst so lebhafte Augen jeglichen Glanz verloren hatten. Seine Lippen bewegten sich, erzeugten aber keinen Laut mehr. Noah griff wieder nach seiner Hand.
»Danke!«, sagte er in der Hoffnung, dass dieses letzte, überfällige Wort ihn noch erreichte. Er schluckte.
Wie an so vieles konnte Noah sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal geweint hatte. Er blinzelte. Und bedankte sich noch einmal.
Bei Oscar.
Dem Menschen, der sein Leben nach den Quersummen von Jahrestagen ausgerichtet hatte; der ein Dasein im Untergrund vorzog, aus Angst, zu viel CLEAR einzuatmen, das nach seiner Meinung von Geheimorganisationen versprüht wurde, um die Welt zu kontrollieren. Er bedankte sich bei dem Menschen, der in seiner Einsamkeit irgendwann damit begonnen hatte, Geschichten über seine Vergangenheit zu erspinnen; eine Frau und ein Studium zu erfinden. Nicht um zu betrügen, sondern um sein Selbstwertgefühl zu steigern. Eine verwirrte, gutmütige Seele, die ihn gerettet und gesund gepflegt hatte, in der Hoffnung, einen Schicksalsgenossen gefunden zu haben, mit dem das Leben auf der Straße etwas erträglicher werden könnte; bei einem Weggefährten, der seine Unterkunft und all sein Erspartes mit ihm geteilt und ihn auf die Irrfahrt durch Europa begleitet hatte und der nun nie wieder zu seinem überfüllten Bücherregal in das unterirdische Versteck nach Berlin zurückkehren würde.
»Komm, David. Wir müssen los«, hörte er Altmann drängen.
Und niemanden außer Noah, vor dessen Augen Oscar in dieser Sekunde gestorben war, würde es kümmern.
9. Kapitel
Manila, Philippinen
Das Erste, was Alicia sah, als sie aus dem Abwasserschacht kletterte, waren die Hochhäuser Makati Citys, die sich in weiter Entfernung wie aus einer für sie unerreichbaren Welt in den blauen Himmel stemmten. Ihre verspiegelten Fassaden funkelten wie die Diamanten der Ehefrau des Hausherrn, dessen Villa sie eine Zeit lang hatte putzen dürfen. Jeden Morgen hatte die Frau ein anderes Stück aus ihrem elfenbeinverzierten Schmuckschrank ausgewählt, bevor
Weitere Kostenlose Bücher