Noah: Thriller (German Edition)
sie zur Maniküre, zur Massage oder zum Shoppen gefahren wurde, während ihr Mann längst in seinem Büro im Finanzzentrum saß, das sich möglicherweise in einem der Hochhäuser vor ihr befand und aus dem man heute einen atemberaubenden Blick auf die Stadt haben musste.
Der sonst allgegenwärtige Dauersmog war deutlich schwächer als üblich. Der Himmel beinahe blau. Es gab nur wenige Wolken, die Sonne brannte ungehindert auf die elfeinhalb Millionen Manilesen herab, von denen die Hälfte in Slums wie jenem lebte, aus dem Alicia gerade herausgekrochen war.
»Geschafft!« Marlon grinste übers ganze Gesicht und half ihr aus dem Rohr.
Sie hatten zwei Anläufe gebraucht. Nach dem ersten Abstieg hatte sich herausgestellt, dass sie ohne Werkzeug nicht weit kommen würden, und es hatte gut eine Stunde gedauert, bis Jay eine Spitzhacke organisieren konnte. Damit war Marlon vorausgegangen, wobei von gehen kaum die Rede sein konnte.
In der Grube war Marlon die meiste Zeit damit beschäftigt gewesen, Unrat und Dreck aus dem Weg zu schlagen. Anfangs hatte ihm Jay dabei geholfen. Doch nachdem er sich an einem scharfkantigen Metallschild beide Hände blutig geschnitten hatte, war es seine Aufgabe gewesen, Alicia und Jay mit der Taschenlampe den Weg durch die Grube zu weisen, die, je weiter sie kamen, desto weniger verstopft und unzugänglich gewesen war.
Dafür hatten die Ratten ein immer größeres Interesse an ihnen gezeigt. Fette Exemplare, die ihre natürliche Scheu vor Menschen abgelegt hatten. Marlon, Jay und Alicia hatten sie sich mit Axtschlägen und Tritten vom Leib zu halten versucht. Alicia bezweifelte, dass es ihnen vollständig gelungen war. Entweder stammte der Schmerz, den sie im rechten Fuß spürte, von einer Glasscherbe, die sich durch ihren Flipflop gebohrt hatte, oder doch von einem Biss.
»Ihr müsst die Wunden auswaschen«, sagte Marlon.
Alicia nickte erschöpft.
Aber mit welchem Wasser?
Sie kniete am Rand des Schachts, dessen Sprossenleiter sie gerade erst erklommen hatte. Ihre Lungen sogen die schwüle, aber endlich nicht mehr nach Jauche schmeckende Luft ein, ihre Nase roch den Staub des Ackers, der sich vor ihnen bis zur Straße erstreckte. Nach der stinkenden Grube war dieser erdige Geruch göttlicher als das Parfum, das die Bankiersfrau immer aufgetragen hatte. Und das Geschrei in ihren Ohren war schöner als jede Musik, die sie je gehört hatte. Denn es stammte aus dem Munde Noels, ihres kleinen, süßen, immer noch lebendigen Babys.
»Wie geht es dir, mein Liebling?«, fragte sie und löste die Plastiktüte vor ihrer Brust.
Er hielt die Augen geschlossen, die Fäuste geballt. Sein Bauch war geschwollen.
Den ganzen Weg – vom Abstieg in die Grube durch den Kanal bis zu dem Ausstieg – hatte er keinen Laut von sich gegeben. Jetzt schrie er aus Leibeskräften, und für dieses Lebenszeichen hätte Alicia am liebsten die ganze Welt umarmt, auch Jay und Marlon, obwohl ihre Gesichter von Kot und anderem Dreck verschmiert waren.
»Du hast Hunger, mein kleiner Spatz.«
Alicia wandte sich ab, um den Kragen ihres T-Shirts so weit nach unten zu ziehen, dass sie Noel die Brust geben konnte. Das Hemd war pitschnass, so wie auch ihre Hose. War ihnen das Abwasser, durch das sie nach dem vorletzten Kanalabzweig hatten waten müssen, anfangs nur bis zu den Knöcheln gegangen, reichte es ihnen am Ende bis knapp über die Hüfte. Am liebsten hätte sie sich die Hose ausgezogen, doch Marlon wollte ihr nicht einmal die Zeit lassen, ihr Baby zu stillen.
»Kann das nicht warten, bis wir bei den Ärzten sind?«
»Nein, mein Baby kann nicht warten«, fauchte Alicia und versuchte Noel dazu zu bewegen, ihre Brustwarze in den Mund zu nehmen. Ein tiefes Glücksgefühl durchströmte sie, als ihr Sohn plötzlich ruhig wurde und sie das Ziehen in ihrer Brust spürte.
Alicia begann zu summen. Ein Kinderlied, das ihr Vater für sie gesungen hatte, damals, als sie noch auf dem Lande gelebt hatten, bevor drei Unwetter in Folge ihnen alles raubten.
Sie kam nur bis zu dem zweiten Refrain, da fing Noel wieder an zu plärren.
Zu früh. Viel zu früh.
»Er kann noch lange nicht satt sein«, sagte sie zu Marlon, der seine Augen mit der flachen Hand gegen die Sonne abschirmte. In dem hellen Licht wirkte seine Haut grau wie schimmelüberzogenes Brot. Auch seine Zähne hatten bereits die Farbe von denen eines alten Mannes.
»Im Zelt haben sie Milchpulver«, versprach er und mahnte erneut zur Eile. Alicia versuchte es
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