Noah: Thriller (German Edition)
Seitwärtsschritten trat er an den Rahmen und spähte in den Flur. Noah, der wegen des Geruchs nur durch den Mund geatmet hatte, hielt die Luft an und wollte Altmann schon folgen, als ihm der Tisch in der Ecke auffiel. Da er mit einem schwarzen Molton-Stoff abgedeckt war, hob er sich kaum vor der dunkel lackierten Wand ab.
»Altmann?«, rief Noah, doch der war schon nicht mehr im Raum.
Noah überlegte kurz, ihm zu folgen, dann siegte die Neugier. Er schob eine Bahre zur Seite und näherte sich dem verdeckten Gegenstand. Mittlerweile war ihm klar geworden, dass es sich nicht um einen ordinären Tisch handelte, denn er summte elektrostatisch.
Was ist das? Ein Generator?
Der etwa zwei Meter lange und einen Meter breite Block reichte ihm bis zum Bauchnabel.
Noah hielt einen Schritt Sicherheitsabstand, richtete seine Waffe aus und bückte sich, um den Abdeckstoff zu fassen zu bekommen.
Also los.
Mit einem Ruck riss er das Tuch herunter und legte das Gehäuse einer Kühltruhe frei.
Sie erinnerte Noah an die Truhen, die man in Strandbars oder kleineren Supermärkten findet; sogar die Abdeckung, die sich zur Seite schieben ließ, war aus durchsichtigem Plexiglas. Allerdings war diese Truhe nicht mit Pizza oder Eis gefüllt, sondern mit einer männlichen Leiche. Alter zwischen fünfunddreißig und vierzig, braune Haare, kantige, intelligente Gesichtszüge.
Das ist … unmöglich!
Noch glaubte Noah, einer optischen Täuschung zu unterliegen. Die Verwirrung über seinen Fund war so groß, dass er nichts davon wahrnahm, was in seinem Rücken geschah. Er hörte nicht, wie Altmann bewusstlos im Flur zusammensackte. Bemerkte den Schatten nicht, der sich langsam von hinten näherte. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, den Anblick des toten Mannes zu verarbeiten.
Das kann nicht sein, dachte er und schüttelte den Kopf.
Noch hoffte er mit der Kraft der Verzweiflung, die Abdeckung der Truhe wäre verspiegelt.
Denn das wäre eine logische Erklärung.
Die einzige Erklärung!
Aber die wächserne, tiefgefrorene Leiche blieb reglos. Schüttelte nicht den Kopf. Öffnete nicht die Augen.
Das ist kein Spiegelbild, dachte Noah, während sich ihm der Lauf einer Pistole in den Nacken bohrte.
Das bin ich selbst.
Es gab keinen Zweifel. Er sah seinem Ebenbild in das blutleere, tote Gesicht. Und in dieser Sekunde, exakt in dem Moment, in dem ihm eine Frauenstimme befahl, sofort seine Waffe fallen zu lassen, begann er sich zu erinnern.
12. Kapitel
»Darf ich es behalten?«
»Wieso?«
»Es gefällt mir.«
Der Ältere zuckte mit den Achseln und reichte ihm das gerahmte Bild, das er eben in seinen Koffer hatte legen wollen. »Ich dachte, du magst meine Zeichnungen nicht.«
»Hab ich das je gesagt?«, fragte der Jüngere.
»Ja, ständig.«
Die beiden Kinder lachten, doch es klang lange nicht mehr so unbeschwert wie in den Jahren zuvor, in denen sie sich das Zimmer auf dem Internat geteilt hatten.
Das Bild betrachtend fragte der Jüngere: »Hat es einen Namen?«
Er saß auf seinem Lieblingsplatz auf dem Fensterbrett. Helles Sonnenlicht wurde durch halb geöffnete Jalousien aufgefächert und ließ den Staub vor ihren Augen schweben.
Der Ältere überlegte. »Ich nenne es Der Bach des Ostens .«
»Wieso das?«
»Du weißt doch, dass ich nach Holland muss. Der Ort da heißt so bescheuert.«
»Hm.«
Eine Zeit lang sagten sie nichts, und der Jüngere sah David stumm beim Packen zu. Seine Arme um die angewinkelten Beine zu schlingen half ihm, die Ruhe zu bewahren. Nicht zu heulen. Vor David zu heulen wäre wirklich das Letzte.
»Ist das jetzt das Ende?«, fragte er schließlich, das Bild immer noch in der Hand. Im Grunde genommen konnte er nichts als Farben und Kleckse darauf erkennen, aber ihm gefiel es trotzdem.
»Idiot. Ich sterbe doch nicht. Ich gehe nur auf eine andere Schule.«
»Für mich ist das wie Sterben.«
David nickte. »Ja, das weiß ich.«
Der Vierzehnjährige griff sich ein Universitätslehrbuch über Quantenphysik, in dem er im letzten Halbjahr mehrere gravierende Fehler entdeckt hatte, und warf es in den geöffneten Koffer. »Hey«, sagte er. »Kopf hoch. Vielleicht finden sie ja etwas gegen deine …«
Seine Mundwinkel zuckten verlegen. Fast hätte er es ausgesprochen.
Gegen deine Krankheit.
»Ja, vielleicht.«
Nun war es doch geschehen. Tränen füllten die Augen des Jüngeren. Er teilte die Lamellen mit den Fingern; tat so, als würde ihn das Fußballspiel der zehnten Klasse auf dem Hof
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