Noah: Thriller (German Edition)
zittern.
»Dad, da stimmt doch etwas nicht?«, sagte sie. Er meinte die erste, einzelne Träne förmlich zu sehen. Wie sie eine Kajalspur unter ihrem Auge zog, über ihre Wange bis zur trotzig vorgeschobenen Oberlippe.
»Es ist nichts«, würgte er hervor, und ein weiterer Klumpen Blut traf die Hörermuschel. »Es tut mir leid.«
»Du kommst doch zurück, oder? Es ist doch alles okay, ja? Dad?«, fragte sie weinend.
Altmann krümmte sich.
»Ich liebe dich«, war das Letzte, was er Leana noch sagen konnte, dann hielt er es nicht mehr aus.
Die Fragen. Die Tränen. Das Weinen seiner Tochter.
Er hatte sich nur verabschieden wollen. Ohne dass Leana Verdacht schöpfte. Und wie immer, wenn es in seinem Privatleben etwas Wichtiges gab, hatte er es nicht auf die Reihe bekommen.
Altmann drückte das Gespräch weg und ließ den Hörer los.
Dann tastete er neben seiner Hüfte nach dem zweiten Gefallen, den Noah dort für ihn platziert hatte.
»Was für ein Kuddelmuddel«, dachte er noch. Dann steckte er sich die Pistole in den Mund, mit der Celine sie gerade eben befreit hatte, und erlöste sich von den Schmerzen.
22. Kapitel
Bernini hatte unter Papst Alexander VII. bei der Planung des Petersplatzes auf das Überraschungsmoment gesetzt. Die Pilger sollten von der Wucht des ersten Eindrucks überwältigt sein, wenn sie aus den verwinkelten Gassen des wuseligen Borgo hinaustraten und sich unversehens vor dem größten Kirchenhaus der christlichen Welt wiederfanden, empfangen von den offenen Säulenarmen, die den elliptisch geformten Platz mit dem vatikanischen Obelisken in seinem Zentrum rahmten.
Es war Mussolini, der mit dem Bau der Via della Conciliazione nicht nur diesen Ehrfurcht einflößenden, architektonischen Effekt zerstörte, sondern auch eines der schönsten mittelalterlichen Viertel, indem er eine monumentale Prachtschneise wie einen Pflock durch das Herz der Stadt treiben ließ, geradlinig vom Tiber bis zu dem Portal des Petersdoms hinauf.
Normalerweise herrschte auf dem Boulevard zu dieser Uhrzeit kaum Verkehr, doch heute ging es auf ihm beinahe so quirlig zu wie einst in dem historischen Bezirk, der dem Straßenlauf zum Opfer gefallen war. Menschen strömten in Gruppen dem Petersplatz entgegen, nutzten die Straße als Bürgersteig, quetschten sich an den im Stau stehenden Fahrzeugen vorbei.
Von wegen Ausgangssperre.
Dabei unterschied sich die Stimmung grundlegend von der, die von den Menschen ausging, die vorhin nach Trastevere gezogen waren. Noah vermeinte eine positiv aufgeladene, erwartungsfrohe Nervosität zu spüren; er sah interessierte, aufgeregte, aber keine aggressiven Gesichter. Viele unterhielten sich angeregt, einige lachten sogar. Ganze Familien waren unterwegs. Zu Fuß, auf Fahrrädern und Mofas, alle mit demselben Ziel, das auch Noah und Celine vor Augen hatten: den Petersplatz.
»Nicht so schnell«, keuchte Celine, obwohl sie nicht einmal Schritttempo liefen. Die Temperaturen waren erstaunlich mild, sie hatte sich ihren Pullover um die Hüften gebunden, und trotzdem schwitzte sie. Ihr Gesicht war rot angelaufen, immer wieder musste sie stehen bleiben, um nach Luft zu schnappen. Auch wenn man ihr nicht ansah, dass sie schwanger war, machte es sich jetzt an ihrer Kondition bemerkbar.
Im Augenblick lehnte sie sich an eine obeliskförmige Laterne und strich sich die schweißfeuchten Haare aus der Stirn. Der Platz lag nicht einmal mehr hundert Meter entfernt. Noah konnte sehen, wie er sich aus allen Richtungen füllte, wie zur Prozession am Palmsonntag.
Bei ihrer ersten Verschnaufpause hatte er die Gelegenheit genutzt und eine Frau im Rollstuhl nach dem Grund ihres nächtlichen Ausflugs gefragt.
»Wir sind Katholiken«, gab sie ihm in gebrochenem Englisch zur Antwort. Sie hatte wie die meisten hier einen Mundschutz über Lippen und Nase getragen, weswegen ihr Gesicht nur aus großen, dunklen Augen zu bestehen schien. »Wenn wir Angst haben, suchen wir Trost beim Heiligen Vater. Im Radio heißt es, er will noch diese Nacht eine Messe halten.« Dann hatte die Frau ihm Gottes Segen gewünscht und war weitergerollt.
»Geht’s wieder?«, fragte Noah und reichte Celine die Hand.
Es war kurz vor ein Uhr morgens, sie waren schon eine Dreiviertelstunde unterwegs. Selbst wenn Zaphire mit seiner Limousine im Stau gestanden hatte, musste er längst im Vatikan eingetroffen sein.
Wir kommen zu spät.
Alleine hätte Noah den Weg von der Neo Clinica bis hierher in der Hälfte der Zeit
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