Noah: Thriller (German Edition)
aufblitzen und wich der Frage aus. »Also, wieso hast du mich alleine gelassen?«
»Tut mir leid, das war feige, ich weiß. Aber ich hab es hier nicht länger ausgehalten. Ich hatte plötzlich Angst, wollte nur noch weg, zurück in mein Versteck. Es sind übrigens hundertzweiundzwanzig.«
»Hundertzweiundzwanzig was?«
»Stufen. Ich hab die Notausgänge und die Treppen ausgekundschaftet, falls wir einen Fluchtweg brauchen, verstehst du?«
»Nein.«
Oscar überhörte den Einwand. »Ich war schon fast wieder auf der Straße, hinten beim Ausgang zum Holocaust-Mahnmal. Doch dann wurde mir klar, das kann ich nicht machen, ich muss zurück. Du brauchst meine Hilfe. Ohne mich kommst du mit denen nicht klar.«
»Mit denen? Von wem redest du?«
»Überleg doch mal selbst. Wer quartiert schon zwei Obdachlose in einer 2500-Euro-Suite ein? Wen immer du vorhin angerufen hast, es war garantiert keine Zeitung.«
»Sondern?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Ach ja?« Noah wurde wütend. »Dafür, dass du keine Ahnung hast, kannst du aber erstaunlich gut in die Zukunft sehen. Wer ist dieser Vandenberg? Und weshalb hat er genau so reagiert, wie du es vorhergesagt hast?«
»Du meinst, weshalb er dir dein angebliches Stammzimmer gegeben hat?«
»Ja.«
Oscar zuckte mit den Achseln. »Ich hab es nicht gewusst, nur vermutet, dass er es tut. Die arbeiten immer so. Das ist Teil ihres Programms.«
»Wer sind die? Und was für ein Programm?«
Oscar trank das Wasserglas leer und drehte es auf den Kopf, dann unternahm er einen zweiten Anlauf aufzustehen. Leicht schwankend sah er sich im Zimmer um und schien mit sich selbst zu reden. »Das Programm. Richtig. Wieso habe ich da nicht gleich dran gedacht, als ich dich gefunden habe.«
Er schlurfte quer durch die Suite zu einem Sideboard und öffnete dort eine Tür nach der anderen.
»Natürlich, das wäre möglich. Wenn es das ist, was ich vermute, dann sind sie schon sehr viel weiter, als ich befürchtet habe. Dann ist das, was sie mir angetan haben, nur ein Kindergeburtstag gewesen. Na endlich, hier bist du ja …«
Er öffnete den Kühlschrank und zog eine Miniaturwhiskeyflasche aus dem Seitenfach der Minibar.
Noah ging zu ihm und packte seine Hand, als er gerade zum Trinken ansetzen wollte. »Zum letzten Mal: Was läuft hier? Wer bist du? Was haben sie dir angetan? Und was habe ich damit zu tun?«
Oscar erwiderte den strengen Blick, ohne sich abzuwenden, und wartete darauf, dass Noahs Griff sich lockerte. »Ich weiß, du wirst mir nicht glauben, aber ich bitte dich, es wenigstens zu versuchen.«
»Ich höre.«
»Du hast mich ein paarmal gefragt, weshalb ich auf der Straße lebe.«
Noah nickte.
»Nun, genau genommen, und das ist ein extrem wichtiger Unterschied, lebe ich nicht auf der Straße, sondern unter ihr.«
»Ist mir nicht entgangen.«
»Und ich tue das mit voller Absicht. Weil ich nur so eine Chance habe, der Gehirnwäsche zu entgehen.«
»Gehirnwäsche?«
»Gedankenkontrolle, Bewusstseinssteuerung, das Programm – nenn es, wie du willst.«
Er leerte das Fläschchen in einem Zug. »Normalerweise trinke ich nicht, aber das habe ich jetzt gebraucht.«
»Sauf meinethalben die halbe Minibar leer, solange du noch in der Lage bist, mir die Wahrheit zu sagen.«
Oscar verzog skeptisch die Mundwinkel. »Du willst die Wahrheit wissen?«
Zu Noahs Verblüffung setzte er sich auf den Teppich und begann seine Stiefel aufzuknöpfen.
»Für die Wahrheit hast du noch nicht lange genug im Untergrund gelebt.«
Oh Mann.
Noah wandte sich ab und sah kopfschüttelnd durch das Fenster zum Brandenburger Tor.
Vermutlich gibt es nur eine Wahrheit, und die ist, dass mein Begleiter komplett verrückt ist.
Oscar hatte sich inzwischen der Stiefel entledigt und saß im Schneidersitz auf seiner umgedrehten Fliegerjacke. Während er versuchte, sich den Norwegerpulli über den breiten Kopf zu ziehen, fragte er: »Wie viele Menschen hungern in der Welt?«
»Bitte?«
»Wie viele haben nicht genügend zu essen, Noah?«
»Was wird das jetzt? Zahlenraten?«
»Nein, Augenöffnen.«
Oscar hatte den Kopf endlich befreit und musste nicht mehr durch den Stoff atmen. »Schätz mal!«
»Keine Ahnung, viele, nehme ich an.«
Noah hatte keine Lust auf derartige Psychospielchen, die Oscar schon einmal mit ihm gespielt hatte. Gleich nachdem er zum ersten Mal im Versteck aufgewacht und ansprechbar gewesen war, hatte sein mysteriöser Retter in einer aberwitzigen Geschwindigkeit zahlreiche
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