Noah: Thriller (German Edition)
Winter komme ich tagsüber nach oben, denn zwischen November und März sprühen sie seltener, weil da die Wolkendecke zu viel absorbiert. Verstehst du es jetzt? Nur deshalb bin ich noch so klar im Kopf.«
Noah sah ihn entgeistert an. Nachdem Oscar nun auch sein T-Shirt ausgezogen hatte, stand er mit freiem Oberkörper vor ihm. Bis auf eine etwa fünf Zentimeter lange weiße Narbe war Oscars Kugelbauch wie der eines Affen, vollständig behaart.
»Und was kommt jetzt?«, fragte Noah. »Zeigst du mir deine Narbe als Beweis dafür, dass du von geheimen Mächten gefoltert wurdest?«
Oscar sah verwundert an sich herunter und berührte die Wulst unterhalb des Rippenbogens.
»Quatsch. Da bin ich als Kind mal vom Baum gefallen.«
Er streifte sich Hose und Unterhose nach unten, zog sie sich von den Knöcheln und watschelte x-beinig an Noah vorbei Richtung Badezimmer. »Ich will nur endlich wieder mal in eine heiße Wanne steigen.«
20. Kapitel
»Haben wir Zugriff auf die Videoüberwachung?«, fragte Altmann und stieg in den Fahrstuhl. Bevor sich die Türen schließen konnten, eilte noch ein junges Pärchen in die Kabine, das ebenfalls in den fünften Stock wollte.
»Nein«, meldete sich die Frau über den Sender in seinem Ohr. »Nicht unser Einflussbereich.«
Hab ich mir auch nicht anders gedacht.
Sie hatten ihn für einen »Quinso«-Einsatz geordert. Quick in. Safe out. Ohne Zeugen. Ohne Spuren. Sein Spezialgebiet. Um einen Quinso erfolgreich über die Bühne zu bringen, musste der Kreis der Beteiligten so eng wie möglich gezogen werden. Den Sicherheitschef des Adlon einzuweihen wäre grob fahrlässig gewesen, selbst wenn er auf der Gehaltsliste stand.
»Das Clean-Team steht bereit, sobald Sie die Aktion greenlighten.«
Quinso. Clean-Team. Greenlighten.
Manchmal fragte sich Altmann, wer sich diesen schwachsinnigen Pseudocode eigentlich ausdachte. Bestimmt irgendwelche Sesselpupser, die zu alt waren für den Feldeinsatz. Was zum Teufel sprach dagegen, die Dinge beim Namen zu nennen?
»Wir schicken das Reinigungsteam ins Zimmer, sobald Sie den Job erledigt haben.«
Früher hatten sie so gesprochen.
Früher hab ich auch noch Geschenke zum Geburtstag bekommen.
»Haben Sie mich verstanden?«, forderte die Frauenstimme eine Bestätigung von Altmann.
Er blickte zu dem eng umschlungenen Pärchen, das seine Küsse nur für ein gelegentliches Kichern unterbrach.
»Wissen Sie, wie spät es ist?«, fragte er, um der Einsatzleitung zu signalisieren, dass er nicht alleine im Fahrstuhl war. Der junge Mann hatte einige Mühe, sich aus der Umarmung seiner schwer verliebten Freundin zu lösen, und warf einen Blick auf die Armbanduhr. »Kurz nach elf.«
Altmann bedankte sich, aber Romeo hatte den Mund bereits wieder auf den Mund seiner Julia gepresst.
Umso besser. Wirst du mich später nicht beschreiben können.
Altmann wusste, dass das ohnehin schwierig war. Er hatte keine besonderen Merkmale wie abstehende Ohren, Narben oder Leberflecke im Gesicht. Nicht zu dick, nicht zu groß, nicht zu sportlich, nicht zu hager. Er war ein Allerweltstyp. Durchschnittsbraune Haare, durchschnittsgraue Augen, langweilige Farbkombinationen bei seiner Kleidung. Ein Albtraum für jeden Zeugen, der ein Phantombild aus dem Gedächtnis zeichnen sollte. Nur ein Grund von vielen, weshalb er für Aufgaben wie diese geradezu prädestiniert war.
Im fünften Stock angekommen, ließ er dem Paar den Vortritt und wartete ab, für welche Richtung des Ganges sie sich entschieden, um die entgegengesetzte zu nehmen. Es dauerte nicht lange, bis er hinter sich das sanfte Schnappen einer zufallenden Tür hörte, die das Gekicher der Verliebten abschnitt.
Altmann machte auf dem Absatz kehrt und schritt den leeren Flur bis zu seinem Kopfende hinunter.
Dreiundvierzig Schritte bis zum Fahrstuhl , notierte er in Gedanken.
Vor der Tür mit dem Messingschild »Pariser-Platz-Suite« blieb er stehen. »Bin am Einsatzort.«
»Verstanden.«
Er zog ein durchsichtiges, kreditkartenflaches Gerät aus seiner Hosentasche, das über einen Draht mit einem Smartphone in seiner inneren Jackentasche verbunden war. Die elektronische Schlüsselkarte zog er durch den für sie vorgesehenen Schlitz neben der Zimmertür. Dann tippte er eine sechsstellige Nummer ein, die ihm die Einsatzleitung zusammen mit den Grundrissen und den Fotos gemailt hatte. Es klackte, und die Tür öffnete sich einen winzigen Spalt, durch den sanftes Licht in den Flur fiel.
»Es geht los«,
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