Noah: Thriller (German Edition)
vorhin, als sie das warme Obdachlosenasyl hatten verlassen müssen. Und das, obwohl sie im Augenblick deutlich dünnere Kleidung trugen.
»Hey, wo willst du denn hin, Noah?«
Der Engpass vor den Glastüren des Elektronikmarkts hatte sich aufgelöst. Noah passierte schnellen Schrittes den Eingang.
Er wartete auf seinen Begleiter, drückte ihm den Koffer in die Hand und zeigte auf ein Schild neben den Rolltreppen, um seine Frage zu beantworten. »Dritte Etage. Zu den Fernsehern.«
Oscar lachte ungläubig auf.
»Na klar, wieso nicht. Gibt doch nichts Besseres als ein TV-Abend im Elektronikmarkt«, zischte er aufgebracht und senkte die Stimme. »Ein wirklich schöner Ausklang nach der Schießerei im Hotel. Was läuft denn Hübsches?«
»Keine Ahnung.« Noah setzte sich wieder in Bewegung. »Wir werden es gleich erfahren.«
»Lass mich raten, vom amerikanischen Präsidenten?«
Sie hatten die Rolltreppe erreicht. Noah setzte seinen Fuß auf die erste Stufe, spürte, wie Toto sich in dem Rucksack bewegte, und fragte sich, ob das in ihm aufwallende Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren, jemals wieder abebben würde.
Oscar hat recht. Langsam benehme ich mich schon genauso verrückt wie er selbst.
Es dauerte nur zwei Minuten, da hatten sie ihr Ziel erreicht und standen vor einer Regalwand mit unzähligen Fernsehern unterschiedlicher Größe. Die Ansammlung hatte eine irritierende Wirkung auf Noah. Sie erzeugte das befremdliche Gefühl, nicht ein Beobachter, sondern der Überwachte zu sein. Weil alle Bildschirme den gleichen Zeichentrickfilm zeigten, konnte sein Gehirn sich nicht entscheiden, auf welches Gerät er sich konzentrieren sollte.
Er nahm das Handy wieder zur Hand. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten drückte er auf Rückruf. Der ältere Mann nahm ab, noch bevor Noah ein Freizeichen hörte.
»Was ist passiert?«
»Ich habe jetzt einen Fernseher.«
Erleichtertes Aufatmen.
»Gut. Ich dachte schon, dir wäre etwas … Egal, geh bitte auf NNN.«
»Den Nachrichtenkanal?«
Noah hatte den Hinweis, NNN wäre vielleicht nicht in deutschen Geräten programmiert, schon auf der Zunge, schaffte es aber noch rechtzeitig, sich nicht zu verplappern.
»Genau den. Siehst du ihn?«
»Moment.«
Noah trat wahllos an einen der vielen Fernseher heran und öffnete bei einem schwarzen 50-Zoll-Gerät eine Klappe im Rahmen. Mit den Pfeiltasten änderte er die Programmauswahl. Der Zeichentrickfilm verschwand. Noah zappte sich durch die Kanäle.
»Hey, was machen Sie denn da?«, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich. Es war der Moment, in dem ihm bewusst wurde, dass Oscar nicht mehr in seiner Nähe war.
Wo zum Teufel steckt er schon wieder?
Er drückte sein Gespräch wieder weg und musterte den jungen Verkäufer, der sich in einer rot-schwarzen Weste vor ihm aufgebaut hatte. Der Mann war nicht älter als zwanzig, mit einem kümmerlichen Bartansatz auf der Oberlippe, der es nicht schaffte, zwei große rote Pickel zu verdecken. Er trug mehrere Ringe im Ohr und an den Fingern seiner Hand, in der er eine Fernbedienung hielt, die er drohend auf Noahs Brust richtete. »Die Geräte hier dürfen nur vom Fachpersonal bedient werden.«
Noah entschuldigte sich. Um keine Zeit zu verlieren, zog er das Geldbündel aus seiner Jackentasche und tippte mit dem Zeigefinger auf das Preisschild des TV-Geräts, das hinter einem durchsichtigen Plastikrahmen auf der Regalschiene befestigt war.
999 €.
»Ich kauf das Ding, wenn Sie mir NNN einstellen.«
Der Geldkatalysator funktionierte. Der Junge lächelte wie auf Knopfdruck und vergeudete keine Zeit.
»Wir haben hier Satellit. Nichts leichter als das.« Er richtete seine Fernbedienung, mit der er alle Fernseher gleichzeitig steuern konnte, auf die Regalwand und tippte eine dreistellige Zahl ein. Das Telefon begann wieder zu klingeln. »Aber das Bild wird natürlich nicht so klar sein wie bei einem HD-Kanal«, entschuldigte sich der Verkäufer, als der Nachrichtensender auf allen Bildschirmen zu sehen war.
Noah sah sich noch einmal nach Oscar um, dann nahm er den eingehenden Anruf entgegen.
»Bin auf NNN«, informierte er den Anrufer.
»Gut.«
Das leicht krisselige Fernsehbild zeigte einen rundlichen, hochgewachsenen Mann im dunklen Maßanzug. Sein heller Schlips schnürte den Kragen tief in sein Doppelkinn. Die Halbglatze glänzte wegen der Kamerascheinwerfer, die auf ihn gerichtet waren. Er stand am Rednerpult vor einem blauen Hintergrund, ein großes Oval mit dem
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