Noah: Thriller (German Edition)
reichte Oscar ihm das Laserdruckerbild einer attraktiven jungen Frau Ende zwanzig. Dunkelblond, oval geschnittenes, zartes Gesicht, ein strahlendes Lächeln, das fast bis zu den Backenzähnen reichte. Obwohl die Aufnahme eindeutig ein gestelltes Bewerbungsbild war, war es dem Fotografen nicht gelungen, das natürliche, unkomplizierte Wesen der Frau komplett zu unterdrücken.
»Das ist Celine Henderson, die Reporterin. So wie es aussieht, arbeitet sie wirklich für die New York News . Und sie hat Tonnen von Spuren im Netz hinterlassen: Facebook-Posts, YouTube-Videos, Blogeinträge, ihre Artikel. Nichts, was man mal auf die Schnelle fälschen kann.«
So wie mein Leben.
Noah wandte nachdenklich den Kopf ab.
Ich kann mich an das Hotelzimmer erinnern, an den Duft und an den sterbenden Mann vor dem Kamin. Ich erinnere mich an den Schuss, der mich getroffen hat, und an meine Flucht durch das Adlon. Und manchmal höre ich die Stimme eines alten Mannes in meinem Kopf, der mir Ratschläge gibt, doch leider sagt er mir nicht, wie ich wirklich heiße. Wer ich wirklich bin.
Eine überraschende Frage, die Oscar ihm stellte, riss ihn aus seinen Gedanken: »Eine Mittelohrinfektion, wird die durch Bakterien oder Viren verursacht?«
Er begriff sofort, worauf sein Begleiter hinauswollte. Als Koryphäe müsste er diese Frage im Schlaf beantworten können. Aber er war unsicher.
»Dagegen nimmt man Antibiotika, oder? Also eine bakterielle Infektion.«
»Mööp.« Oscar imitierte das Geräusch eines Gameshow-Buzzers bei einer falschen Antwort. »Forscher haben in dem entzündlichen Ohrsekret beides nachgewiesen. Viren und Bakterien. Tja«, er rieb sich nachdenklich seine Nase, »wie ein Träger des Albert-Lasker-Preises klingst du mir nicht gerade.«
Noah nickte bestätigend. »Ich fühle mich auch nicht wie ein Virologe. Alles in mir schreit: Ich bin nicht Dr. Morten.«
»Ich denke, du bist es doch.«
Noah fuhr sich aufgebracht durch die Haare und versuchte, nicht laut zu werden. »Ich weiß, wie man mit bloßen Händen tötet, Oscar, und es macht mir nichts aus. Gar nichts. Ich trauere den Menschen, die ich heute umgebracht habe, keine Sekunde hinterher. Ich kann schneller töten als kopfrechnen. Feuer eine Waffe ab, und ich erkenne am Klang, welches Modell es ist. Gib mir ein Mikroskop, und ich weiß nicht, wie herum ich es halten soll. Passt das zu einem Ivy-League-Absolventen?«
»Nein. Und dennoch bist du vermutlich Dr. David Morten. Und du bist es wieder nicht.«
Noah sah seinen kauzigen Begleiter an, als hätte dieser endgültig den Verstand verloren, daher beeilte Oscar sich zu erklären: »Es ist deine Tarnidentität. Die dürftigen Daten über dich riechen doch nach einem fingierten Lebenslauf. Hätte ich Zeit gehabt, die anderen Namen der Pässe zu checken, hätte ich bestimmt etwas ähnlich Lückenhaftes gefunden.«
Um seine Gedanken zu sortieren, legte Noah den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke. Es klang verrückt, aber es ergab Sinn.
Nur wenn das stimmt, wenn ich wirklich unter einer falschen Legende gelebt habe, dann ist die wichtigste Frage, die sich jetzt stellt …
»Weshalb?«, ergänzte Oscar Noahs Gedanken. »Zu welchem Zweck hast du dir diese Scheinidentität zugelegt?«
Sie sahen sich eine Weile stumm an, dann wandte Oscar sich ab und ging barfuß über den mit Teppichstückwerk ausgelegten Fußboden zur Spüle, wo er den Hahn laufen ließ, um das erste, leicht rostige Wasser abzulassen, bevor er eine Tasse darunterhielt.
»Wer waren diese Männer?«, fragte er mit dem Rücken zu Noah. »Wer wollte dich umbringen?« Oscar drehte sich um und nahm einen gewaltigen Schluck aus einem bauchigen Steingutgefäß, das er mit seinen kleinen Fingern kaum festhalten konnte.
»Ich habe keine Ahnung.«
Noah erzählte ihm von der merkwürdigen Tätowierung, die er auf der Hand der beiden Leichen entdeckt hatte.
»Room 17?«
»Ja.«
Oscar schien nervös, stellte die Tasse wieder neben der Spüle ab. »Hast du den Artikel noch?«
»Welchen?«
»Den, in dem sie den Maler des Bildes suchen. In dem die amerikanische Telefonnummer stand, die du vorhin gewählt hast.«
Noah öffnete den Reißverschluss seiner Jacke und tastete alle Taschen ab, bis er fündig wurde. Hastig riss Oscar ihm das Papier aus der Hand. Seine Augen überflogen das angeblich 1-Million-Euro-würdige Gemälde, von dem Noah sich sicher war, es aus einem früheren Leben zu kennen. Ob er es selbst gemalt hatte?
Da schrie Oscar
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