Noah: Thriller (German Edition)
wird schlimmer. Nicht besser.
Noah hatte es sich erst nicht eingestehen wollen, am liebsten gar nicht darüber nachdenken, aber jetzt, als er vor dem Wohnwagen stand, neben der Lieferantenzufahrt des Hauptbahnhofs, konnte er es nicht länger leugnen: Seine Erinnerungslücken wurden mit der Zeit größer, nicht kleiner.
Zwar durchzuckten hin und wieder Erinnerungsblitze sein Gehirn, so wie das Bild von dem sterbenden Mann in der Suite im Adlon; und manchmal hörte er die altväterliche Stimme in seinem Kopf, die er so wenig einem Gesicht zuordnen konnte, wie es ihm einfallen wollte, wo er aufgewachsen war, wie seine Eltern aussahen und ob er eine Familie hatte, die auf ihn wartete. Doch viel schlimmer war, dass sich neben diesen bekannten Löchern im Netz seiner Erinnerung auf einmal neue auftaten.
Es wurde schlimmer. Nicht besser.
Es war, als wäre die Kugel vor vier Wochen nicht in seine Schulter, sondern in sein Gedächtnis geschlagen und hätte dort eine Wunde gerissen, aus der statt Blut Erinnerungen unkontrolliert aus seinem Körper sickerten. Zum ersten Mal war ihm das noch im Versteck aufgefallen, als er eilig einige Sachen in den Koffer packte und plötzlich nicht mehr wusste, weshalb er dies tat. Erst als Oscar mit den Worten »In Amsterdam könnte es noch kälter sein« einen weiteren dicken Pullover hineinlegte, fiel es ihm wieder ein. Und jetzt war es schon wieder passiert.
Noah hatte seinen Weggefährten fragen wollen, was zum Teufel sie hier wollten, um fünf Uhr früh, in einer nach Urin und Abfall stinkenden Unterführung zum Hauptbahnhof, wo ihr Zug doch in wenigen Minuten abfuhr, aber plötzlich war ihm der Name seines Begleiters entfallen. Und während die Angst, sich Stück für Stück selbst zu verlieren, wie eine Welle über ihm zusammenschlug, hatte der kleine, rundliche Kerl Noahs Rucksack geschultert und war alleine in dem Wohnmobil verschwunden.
Holger? Otto? Ottmar?
Erst als er wenige Minuten später ohne den Rucksack wieder aus dem Wohnwagen herauskletterte, fiel es ihm wieder ein: »Was hast du mit Toto gemacht, Oscar?«
Noah folgte Oscar mit dem Koffer in der Hand um den Wohnwagen. Splittverkrusteter Schnee knirschte unter ihren Stiefeln. Der Wind hatte nachgelassen, weswegen die gefühlte Temperatur etwas gestiegen war. Dennoch war die Kälte selbst mit der warmen Unterwäsche, die Noah in dem Koffer gefunden hatte und die er jetzt unter der Anzughose trug, kaum zu ertragen. Auch Oscar hatte sich umgezogen. Zu Noahs Verblüffung hatte er unter seinem Bett mehrere Kleidungsstücke von erstaunlich guter Qualität hervorgezogen: eine angestaubte, aber intakte Daunenjacke, einen braunen Rollkragenpulli, Jeans, lammfellgefütterte Stiefel. Auf die Frage, weshalb er die Sachen in diesem strengen Winter nicht schon längst getragen hatte, hatte Oscar nur lapidar geantwortet: »Aus dem gleichen Grund, weshalb ich sie jetzt anziehe. Ich will nicht auffallen.«
Tatsächlich wirkte Oscar in seinem neuen Aufzug beinahe normal. Nur sein ungestutzter Bart erinnerte noch an seinen Lebenswandel.
»Hey, ich rede mit dir«, rief Noah ihm hinterher. »Was hast du mit dem Hund gemacht?«
»Jenny kümmert sich um ihn.«
Jenny? Ein weiterer Name ohne Bedeutung.
Oscar nickte. »Sie war etwas angesäuert, dass wir sie aus dem Schlaf gerissen haben, eigentlich erwartet sie die ersten Patienten frühestens in zwei Stunden, aber dann hat sie Toto gesehen und sich sofort an die Arbeit gemacht. Sie tippt auf einen fiesen Wurmbefall.«
»Ist sie Tierärztin?« Noah sah zurück zum Wohnwagen, durch dessen vorhanggesicherte Fenster gelbliches Licht fiel. Erst jetzt, beim Weggehen, erkannte er auf der anderen Seite des Mobils einen schlammverschmutzten Schriftzug: HundeDoc.
»Sie ist eher eine Sozialarbeiterin. Jenny kümmert sich um die Straßenkinder in Berlin. Da die aber zu Erwachsenen kein Zutrauen haben, sucht sie den Zugang über die Tiere. Mit Erfolg. Ein Penner kann aus den Augen bluten und wird nicht zum Arzt gehen. Ein Hund aber ist sein wertvollster Besitz, meist der einzige Freund. Der darf nicht krank werden.«
Oscar klärte Noah darüber auf, dass Jenny mit ihrem HundeDoc-Mobil direkt in die Brennpunkte fuhr, um die Tiere der Obdachlosen kostenlos zu behandeln. Dabei lernte sie viel über die Sorgen und Nöte der Straßenkinder, durfte manchmal deren eigene Wunden versorgen, und hin und wieder (wenn auch selten) gelang es ihr, dem einen oder anderen einen Platz in einer
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