Noah: Thriller (German Edition)
mit der Hand gegen die heftige Mittagssonne ab, die senkrecht von oben in den Trampelpfad zwischen den Wellblechhütten knallte. Noels Atem ging rasselnd, aber gleichmäßig. Sein Gewicht war kaum zu spüren. Drei Stunden war es her, seitdem ihr Baby das letzte Mal geschrien hatte. Drei Stunden seit dem letzten Versuch, ihm etwas Milch zu geben. Sie wusste nicht, wie viel Noel getrunken hatte, ob er überhaupt etwas aus ihren viel zu schlaffen Brüsten hatte saugen können. Sie wusste nur, dass der Marsch, den sie gerade zu bewältigen versuchten, ganz sicher nicht dazu geeignet war, seinen Gesundheitszustand zu verbessern.
Der Weg, den Jay eingeschlagen hatte, führte sie bergab in den Sumpf hinein. Der ärmste Abschnitt Lupang Pangakos, der bei starken Regenfällen als Erstes überflutet wurde. Wegen des hohen Grundwasserspiegels war der Boden stets weich, oft sogar matschig und damit die Brutstätte von Insektenlarven und Krankheitserregern. In den letzten Monaten aber hatte eine ungewöhnliche Dürre geherrscht, weswegen Alicia sich heute nicht durch Moskitoschwärme hindurchkämpfen musste, während sie Jay den Hang hinabfolgte.
»Ist es noch weit?«, fragte sie bang, fest entschlossen, nur noch wenige Schritte zu gehen, selbst wenn Jay dann wütend wurde.
»Wir sind gleich da, Mama«, antwortete ihr Sohn in dem Tonfall, der sie so sehr an seinen Vater erinnerte. Freundlich, aber keine Widerrede duldend. So bestimmt wie vorhin, als er sie zu dem Aufbruch ins Ungewisse gedrängt hatte.
»Wollen wir nicht lieber hierbleiben?«, hatte sie Jay gefragt, nachdem das Flugzeug sie und die Menschenmenge mit Desinfektionsmittel besprüht hatte und sie zurück in die Hütte geflohen waren, wo sie sich notdürftig mit einem Lappen und etwas Wasser reinigen konnten. Der Geruch der in den Augen brennenden Flüssigkeit hatte Alicia an ihre Arbeit in der Bankiersvilla erinnert. Mit einem ähnlich riechenden Mittel hatte der Pooljunge einmal im Monat das Bassin gereinigt.
»Wir sollten besser abwarten, Jay.« Bis die Hubschrauber nicht mehr über unseren Hütten kreisen. Bis die Zugänge wieder frei sind und wir gefahrlos das Viertel verlassen dürfen.
Doch Jay hatte davon nichts wissen wollen.
»Ich entscheide, was wir jetzt tun«, hatte er zu ihr gesagt und damit klargestellt, wer jetzt der Mann in der Familie war.
Alicia hatte Jay tief in die dunklen Augen geblickt. Der Ausdruck darin war so ernst gewesen, dass es ihr unmöglich gewesen war, über seine Feststellung zu lachen. »Du bist erst sieben«, hatte sie erwidern wollen, doch die Worte kamen ihr nicht über die Lippen. Einerseits, weil sie ihn nicht verletzen wollte. Andererseits, weil er recht hatte. Mit seiner Tätigkeit auf der Deponie war Jay der Hauptversorger, und damit standen ihm alle Rechte als Familienoberhaupt zu. Auch das Recht, seiner verzweifelten Mutter den Weg zu weisen, selbst wenn Alicia nicht wusste, was sie hier in dieser Gegend verloren hatten. Wenn Lupang Pangako die Endstation des Lebens war, dann war der Sumpf der Wartesaal der Hölle. Und ganz sicher nicht der Ausgang aus diesem Schrecken.
Weiter oben im Viertel gab es zeitweise Strom, einige Hütten hatten Radio und Fernseher, ihre Bewohner versuchten es sich hübsch zu machen, mit Postern an den Wänden und bunt bemalten Türen. Hier im Sumpf hörte man selten Musik, kaum einmal ein Kinderlachen. Hinter den Vorhängen versteckten sich Alte und Kranke, die von ihren Familien bereits aufgegeben waren. Wenn sich ein Gesicht zeigte, dann das eines hungrigen Kindes oder einer zahnlosen Prostituierten, die ihre Dienste anbot.
Noch waren die meisten Hütten verrammelt und verschlossen, aber wenn es Nacht wurde, schickten die Männer die Kinder auf die Straße, um ihre Frauen für eine Handvoll Centavos an die Arbeiter zu verkaufen, die von der Müllkippe zurückkamen.
Ob ich auch einmal hier enden werde? , fragte sich Alicia und versprach Gott in einem stummen Gebet, dass sie dieses Schicksal gerne ertragen würde, wenn nur ihre Kinder ein besseres Leben hätten.
Aber wieso sollte Gott sich auf diesen Handel einlassen?
Vulgäres Gelächter schreckte Alicia auf.
Eine Gruppe Halbstarker kam ihnen entgegen. Plötzlich spürte sie, wie sehr sie außer Atem war und dass sie kaum mehr genug Kraft aufbringen würde, um den Fußmarsch fortzusetzen.
»Können wir eine kurze Pause machen?«, rief sie ihrem Sohn hinterher. Die Jugendlichen lachten noch lauter, gingen aber weiter, ohne sie zu
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