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Noah: Thriller (German Edition)

Noah: Thriller (German Edition)

Titel: Noah: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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bestätigte der Halbnackte die Worte seiner Frau und deutete mit der Schere auf Jay. »Du kannst auch in Centavos bezahlen. Die Bituin-Bank macht dir heute einen guten Umrechnungskurs. 1 zu 50.«
    »Es sind höchstens 1 zu 40,6«, widersprach Jay. Wann immer er in der Nähe eines Fernsehers war, bat er dessen Besitzer, auf einen Nachrichtenkanal zu schalten. Dabei interessierten ihn vor allen Dingen die Laufbänder an den Bildschirmrändern. Egal ob Wetterdaten, Aktien- oder Wechselkurse – Jay war fasziniert von Zahlen.
    »Was ist er? Ein Klugscheißer?«, fragte Chona gehässig.
    Nein. Ein Rechenkünstler, dachte Alicia und hätte, wenn sie nicht Noel vor der Brust getragen hätte, der fetten Kuh wohl eine heruntergehauen.
    Jays Talent war ihr schon früh aufgefallen. Einmal, sie hatte gerade erst bei der Bankiersfamilie angefangen, hatte sie Jay zum Einkaufen mitnehmen dürfen. Es mussten Vorräte für ein Festessen besorgt werden, und die Haushälterin war dankbar für jede helfende Hand gewesen. Drei gewaltige Einkaufswagen voll, beladen wie der Karren eines Maulesels. Das Band an der Kasse brach unter dem Gewicht der Einkäufe schier zusammen, und mit dem Kassenbon hätte man eine Mumie einwickeln können. Als die Kassiererin den Betrag sagte, schüttelte Jay, der damals gerade mal fünf Jahre alt gewesen war, energisch den Kopf und nannte eine um neununddreißig Pesos und acht Centavos niedrigere Summe. Die Angestellte, die Haushälterin und alle Wartenden in der Schlange lachten ihn aus, doch auf dem Rückweg zur Villa studierte Jay im Wagen den Kassenzettel und fand zur Verblüffung aller heraus, dass die Kassiererin fälschlicherweise das Zitronengras doppelt abgebucht hatte.
    »Eins zu 50, eins zu 40,6. Was macht das schon für einen Unterschied?«, höhnte Chona.
    »Exakt siebenundvierzig Pesos«, sagte Jay wie aus der Pistole geschossen.
    »Lass gut sein, Jay. Wir haben es so oder so nicht.«
    Weder 50 noch 500 .
    Das wenige, das sie sparte, ging für seinen Unterricht drauf. Einmal im Monat bezahlte sie Gustavo, einen fast greisen ehemaligen Mathematiklehrer, dafür, dass er Jays Talent weiter förderte. Es waren nur wenige Pesos, und sie sparte sie sich vom Munde ab, doch sie war davon überzeugt, dass sie das Geld nicht besser anlegen konnte. Nie war Jay so glücklich, wie wenn er von Gustavo zurückkam. »Zahlen sind meine Freunde, Mama«, hatte er ihr einmal gesagt, als sie ihn fragte, weshalb er so gerne komplizierte Brüche im Kopf rechnete oder Hunderttausenderbeträge multiplizierte. »Man kann sich immer auf sie verlassen.«
    »Kein Geld?«, fragte die dicke Frau auf Alicias Bemerkung hin. Das Baby war aufgewacht und schrie aus voller Kehle. » Kein Geld hab ich schon genug im Leben.« Chona zeigte zu ihrem Mann. » Kein Geld sitzt da oben und stinkt aus dem Maul.«
    Sie bückte sich und nahm den nackten Säugling aus dem Cola-Kasten. »Schert euch zum Teufel«, sagte sie und zog sich den Büstenhalter von der Brust, um ihr Kind anlegen zu können.
    »Ja, haut ab. Sucht euch eine andere Dumme«, rief ihnen Bituin lachend hinterher.
    Nachdem sie wieder draußen waren und ihre Augen sich an das helle Tageslicht gewöhnt hatten, hielt Alicia ihren Sohn am Arm fest, bevor dieser den Rückweg antreten konnte.
    »Warte«, sagte sie. Jay drehte sich zu ihr, und sie gab ihm eine schallende Ohrfeige.
    Er verzog keine Miene. Wirkte nicht einmal überrascht. Stattdessen nickte er, als habe er die Bestrafung erwartet. Erneut stieg Alicia die Schamröte ins Gesicht. Erschrocken hob sie ihre Hand vor den Mund. »Es tut mir leid. Bitte verzeih mir, Jay. Du hast es ja nur gut gemeint.«
    Sie strich ihm die Haare aus der Stirn. »Ich wollte dich nicht schlagen, aber bitte: Tu so etwas nie wieder.«
    Jay musterte sie schweigend.
    »Dir muss doch klar sein, dass ich mit solchen Menschen nichts zu tun haben will, oder?« Sie zeigte auf die Hütte, aus der sie gerade erst gekommen waren.
    Jay schüttelte den Kopf. »Dein Stolz macht Noel nicht satt.«
    Alicia kämpfte gegen die Tränen.
    »Das mag sein«, sagte sie nach einer Weile, die sie gebraucht hatte, um sich zu sammeln. »Nur ist Stolz das Einzige, was wir noch besitzen.«
    Beschämt senkte sie den Blick zu Boden.
    Wieso habe ich das nur gesagt? Will ich auch ihm noch alle Hoffnung nehmen?
    »Wart’s ab, Mama«, hörte sie Jay sagen und spürte seine Hand an ihrer Wange. »Wart’s ab. Ich werde das Geld schon irgendwie besorgen.«

2. Kapitel
Berlin
    Es

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